Adventskalender 2020

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Kapitel 1: Eine festliche Ankündigung


Jahr 1333 n. E., Tag 3, Jahreszeit des Zephyrs


Das Reich Lyssas. Große, weite Räume, gesäumt von Spiegeln in allen Größen und Seen aus kristallklarem Wasser. Die Wände und Böden in violetten Tönen gehalten. In einem dieser Räume stand ein Bett, groß, bedeckt mit unzähligen Kissen und Decken. Und darin lag eine Frau, gedankenverloren nach oben starrend auf einen Spiegel, der einen Einblick in den Himmel von Tyria gewährte. Wolken zogen langsam vorbei, beleuchtet von einer Sonne in einem dunklen Orange.


Ein paar Minuten lang sah die Frau den Wolken zu, dann stand sie auf und formte mit Magie ein eng anliegendes Kleid aus Seide – schlicht, aber elegant und mit grazilen Mustern versehen. Dann ging sie aus dem Raum zu anderen Spiegeln und betrachtete sie. Lyssa beobachtete, was in ihrem Reich geschah. In einem Spiegel sah sie ein paar ihrer Diener, die sich um Spiegel kümmerten, diese entstaubten oder reparierten. Andere Diener fingen Magie ein, die überall in ihrem Reich wie Schwaden umherflogen, und brachten sie zu den Arbeitsstationen, wo wiederum andere Diener diese Magie in Inspiration, Kreativität und Illusionen verwandelten.

Lyssa würde diese dann in die Herzen der Sterblichen bringen, denn die Götter kümmerten sich noch immer um die Welt Tyria, auch wenn sie entschieden hatten, nicht mehr aktiv in das Geschehen einzugreifen. Die Verantwortung für Tyrias Schicksal blieb und so wachten sie weiter über die Sterblichen, wenn auch aus dem Verborgenen heraus. Doch diese Aufgabe würde sie später wahrnehmen. Jetzt wandte sie sich ab, ging durch mehrere Spiegel, die als Portale in andere Teile ihres Reiches dienten, und verließ ihre Dimension in eine andere, welche die Götter der Menschen gemeinsam nutzten.


Diese Domäne war einer großen Villa nachempfunden. Lyssa betrat einen Raum, in dessen Zentrum ein großer Tisch stand, umgeben von gepolsterten Stühlen. Aus mehreren Fenstern schien eine magische Sonne in den Raum. Lyssa war nicht die erste im Raum, Grenth saß schon am Tisch und blätterte in einer Zeitung. Die Göttin der Schönheit und Illusionen beschwor etwas Gebäck herauf, knabberte daran, setzte sich und streckte ihre Beine aus. An Grenth gewandt fragte sie dann: „Steht etwas Interessantes drin?”

Dieser blätterte die Zeitung um und antwortete: „Nur die Todesanzeigen aller Menschenreiche.”

Lyssa rollte kurz die Augen und schüttelte den Kopf: „Selbst hier arbeitest du noch, entspanne dich doch ein wenig.”

„Ich bin nun einmal gerne vorbereitet, das erleichtert meine Arbeit ein wenig”, erwiderte der Gott des Eises und des Todes.

Kurz darauf kam Dwayna in den Raum und brachte einen Schwall frischer Luft mit sich.

„Ah, Lys, Grenth, schön, dass ihr schon hier seid. Ich habe nach euch und den anderen Göttern schicken lassen, da ich euch etwas mitzuteilen habe.”

„Etwas Ernstes?”, fragte Grenth.

„Nein, nein, nichts Schlimmes, Grenth, aber ich will warten, bis alle hier sind, um nicht alles zweimal sagen zu müssen”, winkte Dwayna ab. Dann ließ sie sich ebenfalls auf einen Stuhl nieder.

Ein paar Minuten später tauchten Melandru und Kormir auf, Balthasar kam als letzter in den Raum und setzte sich auf den letzten Stuhl.

„Also, weswegen hast du uns rufen lassen?”, grollte er.

Dwayna erhob sich und sagte dann: „Kormir teilte mir vor Kurzem mit, dass sich unser Wintertag wieder nähert. Es bleibt noch ein Jahr, dann sollen unsere Reiche wieder unter den Feierlichkeiten dieses Festes erstrahlen.”

„Nur noch ein Jahr? Aber den letzten Wintertag hatten wir doch erst vor Kurzem”, meinte Melandru überrascht.

„Vor 49 Jahren, Mel”, antwortete Kormir.

„Kaum zu glauben, dass die Zeit so schnell vorangeschritten ist”, schüttelte Grenth den Kopf.

„Die Zeit bleibt auch hier in den Nebeln nicht stehen”, antwortete die Göttin der Wahrheit und der Ordnung.

„Oh, ich freue mich schon so auf das Fest”, klatschte Lyssa erregt in die Hände, „es ist immer so schön, die Tänze, die Musik und die freudigen Gesichter.”

„Und damit es auch dieses Mal wieder so ein schönes Fest wird, bitte ich euch alle darum, etwas Schönes vorzubereiten”, meinte Dwayna in die Runde. „Das war dann auch schon alles, was ich euch sagen wollte.”

Die Göttern erhoben sich wieder und kehrten in ihre Reiche zurück mit den Gedanken an den kommenden Wintertag.

Kapitel 2: Kulinarische Diskussion


Jahr 1333 n. E., Tag 14, Jahreszeit des Zephyrs


Kormir stand an einem der Fenster der Villa und schaute hinaus. Hinter ihr saßen Melandru und Balthasar auf den Stühlen und unterhielten sich leise. Nach ein paar Minuten wandte sich Melandru an Kormir: „Sag, Kormir, wie steht es eigentlich mit den Vorräten? Ich hoffe, sie reichen noch und wir müssen zum Wintertag nicht anfangen zu sparen.“

Die Göttin der Ordnung drehte sich um und antwortete: „Keine Sorge, Mel, wir haben noch mehr als genug Vorräte. Die Lager sind noch gut gefüllt durch die Opfergaben der Sterblichen, auch wenn sie nicht mehr so viel opfern wie in früheren Zeiten. Aber seid ohne Sorge, die Zeit des Sparens liegt noch in ferner Zukunft.”

„Das freut mich zu hören”, meinte Melandru. „Ich freue mich schon auf ein paar saftige Streifen Trüffelsteak und knuspriges Geflügelfleisch in Fladenbrot. Ich bin den Sterblichen ja dankbar, dass sie uns immer noch Opfer bringen, aber warum denken sie immer, dass ich nur Obst, Gemüse und andere essbare Pflanzen als Gaben annehme? Ich bin zwar die Göttin der Natur und der Erde, aber das heißt doch noch lange nicht, dass ich auch nur Pflanzen esse.” Sie schüttelte den Kopf. „Aber zum Glück haben wir ja noch unseren Balthasar hier, er bekommt zum Glück mehr als genug Fleisch als Opfergaben von seinen Anhängern.”

„Nicht meine Schuld, dass du nur Obst und Gemüse bekommst. Hättest du deinen Anhängern mal einfach gesagt, was du gerne hättest”, erwiderte der Gott des Wettstreits.

„Ich fürchte, das ist ein Versäumnis, das ich nicht mehr korrigieren kann”, meinte Melandru.

„So sehr Balthi dem Fleischgenuss auch frönt, so kann ich mich noch gut erinnern, dass er beim letzten Wintertag vor allem dem Obst sehr zugetan war”, warf Kormir lächelnd ein.

Der Angesprochene brummte: „Futter du mal 50 Jahre lang fast ausschließlich Fleisch. Da bekommst du auch mal Lust auf etwas anderes.”

Kormir lachte: „Ach Balthi, das war doch nicht böse gemeint. Die Sterblichen haben etwas starre Gedanken und denken nicht immer über den Rand des für sie Bekannten hinaus. Es hat sich in ihren Köpfen festgesetzt, dass der Gott des Krieges nur Fleisch als Opfer annimmt und die Göttin der Natur nur Pflanzen, aber das ist doch auch gut so. Denn so können wir abgeben, was zu viel ist, und anderen eine Freude bereiten.”

Melandru stimmte in das Lachen ein: „Stimmt. Wenn ich mich recht erinnere, dann hast du Unmengen an Keksen gegessen. Brombeerkekse, Erdbeerkekse und Schokokekse.”

„Und ich erinnere mich, dass es bei dir nicht nur bei ein paar Streifen Fleisch geblieben ist, Mel. Ganze Teller verschwanden in deinen Magen”, meinte Balthasar und stimmte mit seinem tiefen Lachen ein.

Diese erwiderte: „Das war aber auch zu lecker. Das muss man deinen Anhängern lassen, Balthi, du bekommst wirklich nur das beste Fleisch von ihnen.”

„Ich sehe schon, der anstehende Wintertag wird wieder ein Fest der Freude und des Labens”, sagte Kormir. „Aber gut, dass ihr mich an die Vorräte erinnert habt. Ich sollte sie durchgehen und bestimmen, was wir für das Fest verwenden werden.”

Damit ging sie aus dem Raum und ließ die anderen beiden Götter allein zurück. Sie unterhielten sich noch eine zeitlang über die Vorzüge diverser Gerichte, bevor auch sie wieder in ihre Reiche gingen um dort ihren Aufgaben nachzukommen.

Kapitel 3: Ein passender Baum für eine passende Gelegenheit


Jahr 1333 n. E., Tag 57, Jahreszeit des Zephyrs


Melandrus Reich. Hohe Berge, große Wälder, weite Graslandschaften, in der Ferne der Beginn einer Wüste. Die Luft roch nach Holz, Harz und Gras. Hier war die Göttin der Natur und Erde zu Hause. Ihre Diener, Kobolde, die mit ihren bunt leuchtenden Körpern durch die Luft flogen, und Druiden, die mit ihren knorrigen Körpern gemäßigt über den Boden gingen und Samen und Blätter verloren, wenn sie sich schüttelten, waren überall zu sehen. Sie sorgten gemeinsam dafür, dass Melandru stets Nachschub an Pflanzen und Samen hatte, die sie dann in die Erde von Tyria brachte, auf dass sie dort gedeihen konnten.


Melandru selbst wandelte gerade durch die Wälder und begutachtete Tannen, Kiefern, Fichten und Zedern. Immer wenn sie einen passenden Baum gefunden hatte, brachte der Druide, der sie begleitete, ein Zeichen an dessen Stamm an und fügte diesen Baum auch einer Liste hinzu, die er bei sich trug. Diese Bäume, so hatte Melandru verfügt, würden für den kommenden Wintertag verwendet werden. Zu gegebener Zeit würden man sie ausgraben, in die anderen Reiche der Götter bringen, dort wieder einpflanzen und dann schmücken. Bis dahin sollten sie besonders gut gepflegt werden.


„Wie viele Bäume benötigen wir noch?”, fragte Melandru. Der Druide schaute auf seine Liste und antwortete: „Wir haben genügend Bäume für vier Reiche. Es fehlen noch welche für zwei und dann noch der große Baum für die Halle der Gemeinschaft.” Melandru seufzte und ging dann weiter: „Dann auf, mein treuer Freund, beenden wir diese Aufgabe schnell, damit wir uns wieder erfreulicheren Aufgaben zuwenden können.” „Wie Ihr wünscht”, meinte der Druide und passte sich der Geschwindigkeit der Göttin an. So ging es dann noch eine Weile weiter. Zwischendurch kamen ein paar Kobolde und gaben Bericht über die Lage im Reich ab.


Nachdem Melandru genügend Bäume für das nächste Reich ausgewählt hatte, kam ein weiterer Kobold auf sie zugeflogen und meinte mit seiner piepsigen Stimme: „Ehrenwerte Göttin, Ihr wolltet, dass wir einen Baum suchen, den wir für würdig erachten, dass er in die Halle der Gemeinschaft eingepflanzt wird. Ich glaube, wir haben diesen Baum gefunden.”

„Wunderbar, dann führt mich zu ihm”, antwortete die Göttin und folgte der leuchtenden Kugel aus Licht durch die Wälder.

Sie passierten weitere Wälder, kamen an einigen kleinen Meeren vorbei, in denen Unterwasserpflanzen wuchsen, und näherten sich einem großen Gebirge, zerklüftet und mit Schnee bedeckt. Am Saum dieses Gebirges wuchsen besondere Bäume, denn sie standen hier, seit das Reich entstanden war. Sie waren nicht nur mächtig in ihrer Größe und Erhabenheit, sondern trugen auch eine ganz eigene Magie in sich. Manche dieser Bäume waren klein und ihre Borke ähnlich zerklüftet wie das Gestein um sie herum, andere breiteten ihre Äste bodennah aus und gaben so großflächigen Schatten, wiederum andere reckten sich gen Sonne und dem Himmel entgegen.

Zielstrebig führte der Kobold seine Göttin durch den ältesten Wald des Reiches und landete schließlich vor einer mächtigen Eibe. Andere Kobolde hatten sich schon um den Baum versammelt und warteten nun gespannt auf das Urteil ihrer Herrin. Sie umrundete bedächtig den Baum und betrachtete ihn eingehend, strich mit ihren Händen an dessen Stamm entlang und berührte sanft die Nadeln.

Schließlich wandte sie sich an die versammelten Kobolde: „Ihr habt gute Arbeit geleistet, meine kleinen Freunde. Ich stimme euch zu, dass diese Eibe ein passender Baum für die Halle ist. Auch der Baum selbst hat zugestimmt, für die Dauer des Wintertags in der Halle zu stehen, um uns zu helfen, ein schönes Fest auf die Beine zu stellen.”

Die Kobolde jubelten und ein bunter Reigen aus Lichtern entstand nun um die Göttin und die Eibe.

Sie lächelte über das Treiben und fügte noch hinzu: „Kümmert euch gut um diese alte Seele, dies soll nun eure Hauptaufgabe bis zum Wintertag sein.”

Dann wandte sie sich wieder ab und suchte mit dem Druiden die letzten Bäume für das letzte Reich zusammen.

Kapitel 4: Neue Gestalt für einen alten Gott

Jahr 1333 n. E., Tag 80, Jahreszeit des Zephyrs


Gemeinsam saßen die Götter an dem großen Tisch in der Villa und unterhielten sich. Dwayna und Kormir redeten über die Sterblichen und darüber, was sie jetzt tun würden, nachdem bekannt war, dass ihre Götter nicht mehr aktiv in ihr Leben eingreifen würden. Lyssa, Melandru und Grenth standen an einem der großen Fenster und unterhielten sich über ihre Reiche und Aufgaben.

Melandru meinte gerade: „Es ist schon schön, dass wir uns aus der Welt der Sterblichen zurückgezogen haben, so habe ich mehr Zeit, mich um die Pflanzen zu kümmern, die den ganzen Kämpfen zum Opfer gefallen sind. Aber mir fehlen doch die Ausflüge in die Welt der Menschen. Es sorgte für ein wenig Abwechslung abseits der Nebel hier.”

„Ich für meinen Teil benötige keine Abwechslung und Ausflüge in die sterbliche Welt”, sagte Grenth. „Für mich hat sich eigentlich kaum etwas geändert, die Seelen der Menschen kommen zu mir, ob ich nun auf deren Erde wandle oder nicht. Tatsächlich kann ich mich um sie nun etwas besser kümmern.”

Lyssa meinte: „Mir reichen auch die Aufgaben, die ich jetzt habe. So kann ich ein wenig entspannen.”

„Du solltest nicht nur an deine Freizeit denken, Lys”, tadelte Grenth sie.

„Ach, ein wenig Freizeit hat noch niemandem geschadet. Du solltest es mal versuchen”, antwortete Lyssa, leicht trotzig. „Außerdem haben wir uns nach dem Ärger mit Balthi wirklich etwas Ruhe verdient”, fügte sie noch hinzu und schaute zu besagtem Gott, der gerade auf einem Stuhl saß und seine Rüstung polierte. „Und ich rede nicht von dem, was er in der Welt der Sterblichen angerichtet hat.”

„Du willst auf seine Strafe hinaus, die wir ihm angedeihen wollten, die aber letztendlich eher uns schadete?”, erwiderte Melandru.

„Ganz genau. Dass die Sterblichen ihn besiegt haben und er dadurch so viel Magie verloren hat, dass er nicht einmal mehr hier eine Gestalt aufbauen konnte, schien im ersten Moment ja eine gute Strafe zu sein, aber dann hat er diese Schwäche schnell in ein Ärgernis für uns umgewandelt”, schüttelte Lyssa verärgert den Kopf.

Grenth stimmte zu: „Ja, diese Zeit war wirklich sehr unschön. Unsere Schutzzauber gegen Eindringlinge in unsere Reiche funktionierten nicht mehr richtig gegen Balthasar, weil er keine Gestalt mehr hatte und seine Magie nur noch ein Hauch war. Überall konnte er hineinschlüpfen und für Ärger sorgen, brach Streit vom Zaun, sabotierte Arbeiten und suchte uns zu den unmöglichsten Zeiten heim.“

Lyssa murmelte und schmollte: „Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als er es liebte, in meinen Spiegeln aufzutauchen, wenn ich gerade hineinschaute. Oh, wie habe ich mich immer wieder erschrocken. Ich könnte ihn dafür immer noch erwürgen. Und das waren noch die harmlosen seiner Scherze.”

„Na, na, Lys. Balthasar war darüber doch auch nicht glücklich und hat seinen Unmut nur leider über diesen Weg kundgetan”, versuchte Melandru sie zu beruhigen.

„Hmpf, er hätte es ja auch mit Würde ertragen können. Er wäre ja nicht ewig in diesem Zustand gefangen gewesen”, antwortete Lyssa immer noch wütend. „Aber nein, er hat uns mit seinem Treiben wirklich soweit getrieben, dass wir ihm gerade so viel unser Magie geben mussten, dass er wieder eine Gestalt annehmen konnte, damit er nicht nach gutdünken in unseren Reichen herumspazieren konnte.”

Grenth meinte: „Unglücklich, ja, aber ich hoffe dennoch, dass Balthasar aus der Sache gelernt hat. Und sieh es mal so, Lyssa: Wir konnten Balthasars Aussehen ein wenig mitbestimmten und haben nun, in sehr geringem Maße, Macht über ihn, auch wenn er diese Magie zweifelsohne nach und nach durch seine eigene ersetzen wird. Aber bis er wieder genug Magie angesammelt hat, dass er wirklich wieder als Gott des Feuers und des Krieges gelten kann, werden noch ein paar Jahrhunderte vergehen.”

Sie schauten zu Balthasar hinüber, der noch immer an seiner Rüstung arbeitete, und stimmten Grenth zu. Balthasars Gestalt ließ die Herkunft der Magie erahnen. So war seine Rüstung nicht mehr so kantig wie zuvor, eher verwachsen und eine schwache violette Aura umrahmte ihn.

Ein paar Sekunden betrachteten die drei ihn, dann hob der Gott des Feuers und des Krieges den Kopf, schaute zu den dreien und ging dann zu ihnen. Als er lief, schien er leichtfüßiger zu sein, strahlte aber zugleich eine gewisse Kälte aus. Als er in Hörweite kam, wandten sie sich schnell neuen Gesprächsthemen zu.

Kapitel 5: Ideensuche im Reich des Todes


Jahr 1333 n. E. Tag 92, Jahreszeit des Phönixes


Das Reich Grenths. Unterteilt in verschiedene Bereiche bewachten die sieben Schnitter und andere von Grenth ernannte Wächter diese Gebiete. Dunkles, totes Land, Baumgerippe, Skelette und Nebel. Heiße, trockene Luft, Schwefelgestank, rissige Böden, Staubtornados. Übelriechende Sümpfe, verweste Leichen, Irrlichter aus Gas. Ewiges Eis, eingefrorene Zeit, tödliche Kälte. Vielgestaltig war das Reich, in dem Grenth die Seelen prüfte, über sie richtete und schließlich zu ihrer letzten Bestimmung führte.


Doch heute grübelte der Gott des Todes nicht über ein paar Seelen und deren Bestimmung, sondern darüber, was er für den kommenden Wintertag beisteuern könnte. Dieses Fest galt bei den Sterblichen als ein Fest der Liebe, des Friedens, des Zusammenhalts. Etwas, was Grenth durchaus zu schätzen wusste, jedoch lagen seine Macht und Magie in anderen Bereichen, die kaum für so ein Fest geeignet waren. Er überlegte schon eine Weile und hatte sogar einen seiner Schnitter gerufen, der ihm helfen sollte, zu einer Lösung zu kommen. Gemeinsam saßen sie also da und überlegten. Viele Ideen kamen auf und wurden wieder verworfen: Paraden, ein Kampffestival, ein Chor … Schöne Ideen, doch das Problem war, dass Grenth über Seelen und Leichen verfügte – kein Anblick, den man auf einem Fest der Liebe und Freude sehen möchte.


„Das gestaltet sich schwieriger als gedacht, alter Freund”, grübelte Grenth.

„In der Tat. Wir sind nicht sehr geeignet, etwas zu so einem Fest beizusteuern”, erwiderte der Schnitter und spielte ein wenig mit einem Stück Eis herum, das er heraufbeschworen hatte. Gedankenverloren formte er das Stück immer wieder um und ließ es um seine Hand kreisen. Grenth sah sich diese Spielerei gedankenverloren an, während sich in seinem Geiste nach und nach eine neue Idee formte.

Nach einer Weile fragte er seinen Schnitter: „Wie viele deiner Untergebenen können das Eis formen wie du?”

Dieser antwortete: „Fast alle.”

„Sehr gut. Ich glaube, ich habe eine Idee, was wir machen können, ohne die anderen zu verschrecken. Ich werde aus den anderen Bereichen Leute zu dir schicken, sie sollen dich unterschützen in deiner Arbeit. Dafür brauche ich dich und deine Untergebenen, denn sie bekommen eine neue Aufgabe von mir.”

Der Schnitter neigte seine Kopf: „Wie Ihr befehlt, mein Herr. Um was für eine Aufgabe wird es sich handeln?”

„Das erkläre ich, sobald alle versammelt sind”, antwortete der Gott des Todes und des Eises. „Versammelt nun alle, wir haben viel vor uns.”

Kapitel 6: Büroarbeit im Reich der Götter


Jahr 1333 n. E., Tag 106, Jahreszeit des Phönixes


Im Reiche Dwaynas. Schwebende Inseln, bestückt mit Wäldern, Felsen, Lava oder Eis. Manche so groß wie eine Stadt, andere so klein wie ein Haus. Wasser- und Lavafälle fielen von manchen Inselrändern herab und verloren sich irgendwann im Nichts der Nebel. Brücken aus Luftströmen verbanden die schwebenden Eilande, Luftwirbel dienten als Aufzüge.

Luftelementare flogen umher und Wirbelstürme verschoben ganze Inseln. Riesige Samenkapseln mit Schirmen dienten als Transporthilfe für materielle Dinge. Schneemänner arbeiteten auf den Inseln, emsig, unaufhörlich. Auf einigen größeren Luftelementaren ritten Schneemänner und kamen so von Insel zu Insel. Die Diener Dwaynas zählten und maßen nach, was sie an Material hatten, an Wasser, Feuer, Erde, Holz, an Magie und Lebenskraft. Alles wurde aufgeschrieben und dann zu Sammelstellen gebracht.

Die dort arbeitenden Schneemänner fassten die Listen einzelner Inseln zusammen und schickten die neuen Listen dann zu Dwayna. Diese war auf ihrem Hauptsitz zu finden: eine Insel, in deren Mitte ein See lag, umrahmt von Bergen und Bäumen. Dort saß Dwayna am Rande des Ufers und las sich die Listen durch, die alle paar Minuten eintrafen und legte sie dann auf einen der vielen Stapel vor ihr. Gerade hatte sie eine weitere Liste durchgesehen, als wieder ein Schneemann mit der nächsten Ladung Listen ankam.


„Herrin, die Listen der ersten nördlichen Inselgruppen.”

Die Göttin sah sich einem Berg an Papier gegenüber und meinte seufzend: „Danke, leg sie einfach neben die anderen Haufen.”

Als der Diener wieder verschwunden war, räkelte sich Dwayna ein wenig und murmelte: „Was habe ich mir da nur vorgenommen. Ich hoffe wirklich, dass ich mich mit dieser Arbeit nicht übernommen habe.”

Wieder schaute sie auf die Haufen von Listen, die noch darauf warteten von ihr durchgelesen zu werden.

„Nun, zuerst muss ich aber wissen, wie es um mein Reich bestellt ist, bevor ich an die anderen Götter herantreten kann. Also auf, Dwayna, das schaffst du schon. Du hast Sterbliche geführt, bist die Anführerin der Götter, du hast gegen Abtrünnige gekämpft und andere Herausforderungen bestanden, da werden dich ein paar Listen aus Zahlen und Buchstaben doch nicht kleinkriegen.”


Mit diesen Worten nahm sich die Göttin des Lebens und der Luft eine neue Handvoll Listen aus dem Stapel und begann sie durchzuarbeiten und dann zu sortieren. Die Stapel um sie herum wurden immer größer, manche schneller, manche langsamer, doch der Haufen mit zu bearbeitenden Listen wurde und wurde nicht kleiner.

Unverdrossen biss sich Dwayna weiter durch diese Arbeit, denn für ihren Plan zum Wintertag musste sie wissen, wie viel Material in ihrem Reich zur Verfügung stand.

Kapitel 7: Streitgespräch


Jahr 1333 n. E., Tag 131, Jahreszeit des Phönixes


„Ach komm schon, Lys, du hast doch erst gemerkt, dass dieser Spiegel fehlt, nachdem die Gruppe Sterblicher ihn zerschlagen hatte.”

„Darum geht es gar nicht. Du hast dich einfach in mein Reich gestohlen, und ich will immer noch wissen, wie du das geschafft hast – außerdem hast du einen Spiegel von mir gestohlen!”

„Du hast Tausende davon bei dir rumstehen. Was macht es denn aus, wenn da einer mal fehlt? Weise deine Diener doch einfach an, einen neuen zu bauen.”

„‚Weise deine Diener doch einfach an, einen neuen zu bauen …‘ Als ob das so einfach wäre – und das weißt du ganz genau. Es ist nicht einfach, einen starken, dauerhaften Zauber an einen Gegenstand zu binden.”

„Dann streng dich halt mal an. Tut dir auch mal gut.”

„Was soll das denn nun wieder heißen? Wer sitzt denn die ganze Zeit nur in seinem mickrigen Reich herum und lässt seine Handvoll Diener schuften?”

„Pah, das ist nicht meine Schuld. Hättet ihr mir mal mehr Magie abgegeben, dann könnte ich auch mehr machen.”

„Ach, jetzt ist es unsere Schuld, dass du keine Magie mehr hast, nachdem du gegen ein paar Sterbliche verloren hast? Du kannst froh sein, dass wir dir überhaupt etwas abgegeben haben, sonst würdest du immer noch nur als flüchtiger Geist hier in den Nebeln herumstreunen.”

„Was durchaus seinen Reiz hatte …”


Still und müde stand Dwayna vor der Tür zur Villa, dem gemeinsamen Bereich der Götter, hörte diesem Streitgespräch zu und massierte sich die Stirn. Eigentlich wollte sie ein wenig entspannen und Ruhe genießen, doch das war ihr offensichtlich nicht vergönnt. Sie hatte schon überlegt, einfach wieder zu gehen, aber als Anführerin der Götter war es Teil ihrer Aufgaben, sich um solche Streitigkeiten zu kümmern.

Sie seufzte einmal und öffnete dann die Tür.

Vor ihr standen sich Balthasar und Lyssa gegenüber. Beide waren zornerfüllt und die Luft knisterte förmlich vor Anspannung und Magie.


„Was ist hier los?”, fragte sie die beiden.

„Der da ist los”, meinte Lyssa wütend und zeigte auf Balthasar. „Ich wollte nur wissen, wann er mir meinen Spiegel ersetzt, den er gestohlen hat. Und dann muss er sich sofort wieder aufplustern!”

„Als ob dir der Spiegel so wichtig war. Ich hab mir extra einen genommen, der ein wenig eingestaubt war.”

„Hörst du das, Dwayna?! Er gibt ganz offen zu, dass er mich bestohlen hat.”

„Ja, Lyssa, ich habe es gehört. Ich habe es schon diverse Male gehört. Das Thema hatten wir doch schon geklärt”, versuchte sie beruhigend einzulenken.

„Und ich warte immer noch auf meinen Spiegel, aber Balthasar kommt mir immer mit neuen Ausreden.”

„Ach komm, du wirst dich ja noch ein wenig gedulden können. Schau doch einfach in einen deiner anderen Spiegel und erfreue dich deiner Eitelkeit”, kam die grollende Antwort von Balthasar.

Lyssa schnappte nach Luft, aber nun hatte Dwayna genug von dem Streit. Sie füllte ihre Stimme mit Macht und ihre Aura erfüllte nun den ganzen Raum – die anderen beiden Götter schienen kleiner zu werden – und sagte mit dröhnender Stimme: „Balthasar, Gott des Krieges, des Feuers und des Wettstreits, Schutzherr der Krieger und Feuerelementarmagier, kein Wort mehr, hast du verstanden?”

„Haha, jetzt kriegst du Ärger, Balthi, sie nennt dich bei deinem vollen Namen”, grinste Lyssa ihr Gegenüber an.

„Und auch von dir, Lyssa, Zwillingsgöttin der Schönheit, Illusion und des Wassers, Schutzherrin der Mesmer, will ich kein Wort mehr über diesen Streit hören.

Ihr beide seid schlimmer als die Kinder der Menschen. Schämen solltet ihr euch, dass ihr euch so aufführt – ihr, die ihr die Menschen führen solltet.”

„Wir sind keine Kinder. Kormir, ist viel jünger als wir”, brummte Balthasar leise, aber trotzig.


„Und benimmt sich weitaus erwachsener als ihr beide zusammen”, antwortete Dwayna wütend. „Und jetzt hinaus mit euch, begrabt dieses leidige Thema und redet nicht mehr darüber!”

Beide duckten sich weg von Dwayna und machten sich eilends aus dem Staub, weg vom Ärger, der von der Anführerin ausgestrahlt wurde.

Nachdem die beiden verschwunden waren, setzte sich Dwayna erschöpft hin und genoß die Ruhe, die nun in der Villa herrschte.

Kapitel 8: Möge der Wettstreit beginnen


Jahr 1333 n. E., Tag 139, Jahreszeit des Phönixes


Balthasars Reich. Schmieden und Hochöfen säumten die Räume im Reich des Feuers. Ambosse standen überall, daneben Werkzeugbänke mit Hämmern und Zangen aller Art und Größe. Die Wände waren mit Feuer überzogen, loderten und tauchten alles in ein flackerndes rot-orangefarbenes Licht. Überall hämmerten Geschmiedete und Ewige Krieger auf die Ambosse, füllten die Öfen mit Metall, schliffen Waffen an Wetzsteinen. Das Hämmern und Dröhnen ihrer Arbeit erfüllte das ganze Reich und wob so eine ganz eigene, kraftvolle und eindrucksvolle Musik.


Doch viele Ambosse und Öfen waren unbesetzt, Geschmiedete und Ewige Krieger nicht in so großer Anzahl vorhanden, wie man es von einem Gott des Krieges erwarten würde. Das Reich war nicht so groß, wie man annehmen mochte. Denn Balthasars Magie reichte nicht für mehr, doch das ließ er sich nicht ansehen. Stolz saß er auf seinem Thron und überblickte das Tun und Wirken seiner Diener.

Die Sterblichen mochten ihn besiegt haben, sie waren stärker gewesen, als er angenommen hatte – zu stark, wie sich am Ende herausstellte, das musste er zugeben –, doch hatte er ihnen auch gezeigt, dass sich der Gott des Feuers und des Krieges nicht ungestraft verspotten lässt. Er hatte ihnen den Zorn eines Gottes gezeigt und die Schrecken, die damit einhergingen. Was machte es schon, dass seine sterbliche Hülle zerstört wurde? Er würde sich eine neue aufbauen und dann wieder unter die Sterblichen treten. Solange sie ihn verehrten, hatten sie nichts von ihm zu befürchten. Aber wehe ihnen, wenn sie wieder anfingen, ihn zu belächeln, ihn auf die leichte Schulter zu nehmen. Dann würde er wieder in den Krieg ziehen und dann würde es anders enden, das hatte er sich fest vorgenommen. Und auch die anderen Götter würden ihn kein zweites Mal daran hindern, seine Ziele zu erreichen. Einmal hatten sie gesiegt und ihn gefangen genommen, doch auch das würde kein zweites Mal geschehen.

Doch all diese Gedanken waren jetzt zweitrangig, denn etwas anderes erforderte gerade die Aufmerksamkeit des Gottes. Das Fest des Wintertags, das die Götter von den Menschen übernommen hatten. Jeder der Götter nahm Anteil daran, gestaltete es mit seiner Macht. Es war, auf seine Art und Weise, eine Demonstration der Stärke und des Einfallsreichtums eines jeden von ihnen.


‘Doch was kann ich jetzt schon ausrichten? Wie kann ich meine Stärke bezeugen mit dem Rest von Magie, der mir geblieben ist?’, dachte er, während er auf seinem Thron saß.

„Womit kann ich etwas zu diesem Fest beisteuern, das zeigt, dass ich, Balthasar, Gott des Krieges und des Feuers, noch immer Macht besitze?”, fragte er einen Geschmiedeten, der gerade in seiner Nähe vorbeilief und noch glühende Metallbarren trug. Dieser schaute seinen Herren stumm an und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.

„Ich hätte euch einen Mund und ein Hirn zum Sprechen geben sollen”, brummte der Feuergott, „dann müsste ich nicht den Großteil meiner Zeit sinnlose Selbstgespräche führen.”

Brummend überlegte er weiter und mit der Zeit keimte eine Idee auf, die er mit der ihm zur Verfügung stehenden Magie auch in die Tat umsetzen konnte. Dann lächelte er und dachte: ‘Der Wettstreit kann beginnen.’

Kapitel 9: Inventur


Jahr 1333 n. E., Tag 145, Jahreszeit des Phönixes


Im Reich Kormirs. Ein riesiger Saal, gefüllt mit Bücherregalen, die sich in den Himmel erstreckten. Unzählige Gänge und Räume zweigten davon ab, gaben Einblicke in weitere Räumlichkeiten mit noch mehr Wissen. Vieles wurde in Büchern festgehalten. Mal waren diese groß und schwer, mal klein und dünn. Anderes Wissen wurde in Stein gemeißelt, wieder anderes auf Holz oder Blättern festgehalten.

Licht strömte durch hohe Fenstern in die Räume und erhellte die zahllosen Buchrücken. Der warme Sand der Wüste ließ die Schritte auf dem Boden weich werden. Füchse liefen umher und sortierten Bücher ein, die immer wieder erschienen, und Eulen flogen herum, die Botschaften mit sich führten und Bücher in die höheren Etagen brachten. Über all dies wachte Kormir, die Göttin der Wahrheit und der Ordnung. Zudem war sie beauftragt, über die Vorräte der Götter zu wachen, die sie durch die Opfergaben der Sterblichen erhielten. Alles, was die Götter nicht selbst verbrauchten, landete bei ihr in einem riesigen Vorratskeller. Und dort stand Kormir auch gerade, umgeben von Fleisch, Gemüse, Obst und Gewürzen, so weit das Auge reichte und noch viel weiter. Ihre Diener hatten nachgeschaut, wie es um diese Vorräte stand, und die Göttin hatte ihnen nun Anweisungen geben, wie viel sie aus diesem Bestand für den kommenden Wintertag nehmen und zubereiten sollten.


Mit schrägem Kopf saß eine große Eule auf den Schultern der Göttin, die sanft über deren Federn strich.

„Die Vorräte sind durchgesehen, Herrin. Meine Untergebenen fangen nun an, das Gewünschte herauszuholen,” sprach die Eule zu ihrer Göttin.

„Sehr gut. Und wie immer hast du hier alles im Griff und hältst alles in Ordnung. Du bist mir wahrlich eine große Hilfe, Sabolas.”

„Ich befolge nur eure Wünsche, Herrin”, antwortete die Eule.

„Gut, ich werde dann nach den Küchen sehen. Nicht, dass hier alles vorbereitet ist, aber wir noch nicht mit der Verarbeitung beginnen können. Gib Bescheid, sollten sich doch noch Probleme ergeben”, sagte Kormir.

„Natürlich, Herrin”, erwiderte Sabolasanitis, breitete seine Schwingen aus und flog mit lautlosem Flügelschlag davon, während Kormir die Treppen hinaufstieg, um nachzusehen, wie weit ihre Diener mit den Vorbereitungen des Kochens und des Bratens waren. Dort angekommen stellte sie fest, dass auch hier alles nach Plan ablief.

Ihr Küchenchef, ein Fuchs namens Ufat berichtete ihr: „Wir sind soweit, Herrin. Die Öfen sind vorgewärmt, die Messer scharf, die Arbeitsflächen sauber.”

„Wunderbar”, meinte Kormir. „Sabolas ist auch soweit, die ersten Karren sollten demnächst hier eintreffen.”

Die Füchse und Eulen schoben noch die letzten Werkzeuge zurecht und warteten dann auf die ersten Ladungen Fleisch und Gemüse, um diese dann zu köstlichen Speisen zu verarbeiten. Zufrieden verließ sie die Küchen wieder, um ihren Dienern nicht bei der Arbeit im Weg zu stehen.

Kapitel 10: Immer diese Charr!


Jahr 1333 n. E., Tag 163, Jahreszeit des Phönixes


„Sterbliche! Warum können sie nicht einfach dort bleiben, wo sie hingehören?”, regte sich Dwayna auf. „Nein, sie müssen ihre Nasen immer wieder überall reinstecken und dann für Chaos sorgen.”

Kormir seufzte und meinte: „Dwayna, meine Liebe, nicht aufregen. Was geschehen ist, ist geschehen, daran können auch wir nichts mehr ändern. Sich darüber aufzuregen, bringt auch nichts mehr, das hatten wir doch schon.”

„Ich weiß das doch, Kormir, aber hin und wieder regen mich die Menschen, Charr, Sylvari und was da sonst noch alles auf Tyria lebt, einfach nur auf. Wir mühen uns ab, ihnen ein schönes Leben zu geben mit Harmonie, Wettstreit, Inspiration und noch vielem mehr. Und was machen sie? Sie bekämpfen sich!”

„So ist nun einmal ihre Natur. Sie suchen ihre Grenzen und versuchen diese dann zu überwinden. Dabei kommen sie sich leider immer wieder gegenseitig in den Weg. Sie sind noch wie Kinder, die nicht wissen, wann man besser einen Schritt rückwärts gehen muss, damit man nicht mit anderen aneinander stößt”, versuchte nun auch Melandru, die Göttin des Lebens, zu beruhigen.

„Aber langsam sollten sie doch mal aus ihrer Vergangenheit gelernt haben”, verzweifelte die Anführerin weiter.

„Haben sie doch: Die Charr und die Menschen leben jetzt miteinander, die Sylvari haben sich von Dienern zu eigenständigen Wesen entwickelt und auch die Asura haben sich angepasst”, sagte Lyssa in die Runde, während sie verträumt aus dem Fenster sah.

Sie alle waren in der Villa, um sich eine kleine Auszeit zu gönnen, doch als Dwayna zu ihnen gestoßen war, war es mit der Ruhe vorbei gewesen, und nun versuchten sie ihre Anführerin wieder zu beruhigen.

„Die Charr!”, heulte Dwayna wieder auf. „Vor allem ein besonderer Charr regt mich richtig auf. Wie war noch sein Name? Rytblock Irgendwas-Stone. Wieso musste dieses haarige Fellknäuel unbedingt sein blödes Flammenschwert wiederhaben wollen?”

„Die Sterblichen sind leicht zu beeindrucken, das muss ich zugeben”, gab Kormir zu.

„Und nur weil dieser Charr unbedingt sein geliebtes Schwert zurück haben wollte, konnte sich Balthasar befreien.

Wir hatten uns schon etwas dabei gedacht, als wir ihn da angekettet hatten. Ist ja auch nicht so, dass man so etwas alle paar Tage wieder einfach so machen könnte. Balthasar sollte seine Zeit zum Nachdenken bekommen und sich wieder beruhigen. Es wäre ja nicht auf Dauer gewesen, zumindest nicht, wenn er sich entschuldigt hätte. Aber nein, da muss dann so ein Charr in die Nebel springen und ausgerechnet dort landen, wo Balthasar hockt, und ihn befreien. Und schon hatten wir den Salat: Unser Gott des Krieges war natürlich noch immer heißblütig und ist sofort losgezogen und hat alles verwüstet!”

„Alles gut, Dwayna”, versuchte es nun Melandru wieder „Letztendlich haben es die Sterblichen doch geschafft, Balthasar zu überwinden. Und seine Niederlage gegen die Sterblichen war für ihn sicherlich eine härtere Strafe als der zeitweilige Verstoß aus unseren Reihen.

Er hat sich ja auch halbwegs beruhigt und hört inzwischen wieder auf uns.”

„Und nur deswegen geben wir ihm auch diese zweite Chance, aber ich will nicht ständig über einen von uns wachen müssen, damit dieser sich nicht wieder heimlich gegen uns stellt. Ich hab ihn ja lieb, unseren Balthasar, aber er ist immer so hitzköpfig. Ich hoffe nur, dass er aus der Situation gelernt hat”, schüttelte Dwayna den Kopf.

Erschöpft ließ sie sich nun auf einen Stuhl nieder und rieb sich die Schläfen.

„Die Sterblichen sollen einfach in Tyria bleiben und wir hier, dann passiert auch nicht viel. Ach ja, und vielleicht sollten sie auch nicht einen Alt-Drachen nach dem anderen töten und so das Gleichgewicht in der Welt zerstören”, seufzte sie.

Lyssa wandte ein: „Das haben sie inzwischen schon herausgefunden und tun, was sie können. Und ich muss sagen, bei dieser jungen Drachin haben sie gute Arbeit geleistet. Ein sehr schönes und anmutiges Wesen haben sie da erzogen.”

„Wenigstens etwas”, lächelte Dwayna müde.

Kapitel 11: Im Reich der Liebe


Jahr 1333 n. E., Tag 181, Jahreszeit des Phönixes


Im Reich Lyssas. Verträumt saß Lyssa auf ihrem Bett und schaute gedankenverloren in die Leere. Eigentlich müsste sie Inspiration und Kreativität in die Herzen der Menschen bringen, aber sie hatte gerade einfach keine Lust auf diese Arbeit. Und Lust darauf, sich Gedanken darüber zu machen, was sie für den Wintertag machen sollte, hatte sie auch gerade nicht. Lieber saß sie einfach nur da und träumte vor sich hin, genoss das Nichtstun, denn schon sehr bald würde man sie doch wieder daran erinnern, dass sie eine Göttin war und dementsprechend handeln sollte. Sie seufzte und wickelte sich in eine weiche Decke ein.


Ein paar Minuten später kam dann der erwartete Besuch, der sie an ihre Aufgaben erinnerte. Einer ihrer Diener klopfte vorsichtig an und trat dann herein: „Geliebte Göttin, ich weiß, dass Ihr euch gerade ausruht, um neue Kraft zu schöpfen, doch ich fürchte, ich muss Eure Ruhe stören. Die Lager sind bald mit Inspiration und Illusionen voll. Wenn Ihr diese so bald wie möglich zu den Menschen bringen könntet, wären wir Euch sehr verbunden.”

„Ja ja, ich komme ja … Ich meine, danke für deine Botschaft, ich werde mich sofort auf den Weg machen … ähm, Stephan?”, antwortete sie und schälte sich wieder aus der Decke heraus.

„‚Allesto‘ tauften mich meine Eltern, Göttin meines Herzens, aber für Euch würde ich gerne den Namen ‚Stephan‘ annehmen.”

„Oh, nicht nötig. Allesto ist ein wundervoller Name”, winkte Lyssa schnell ab.

Dieser nickte einmal kurz und verschwand dann wieder. Die Diener Lyssas unterschieden sich ein wenig von denen der anderen Götter, denn Lyssas Untergebene waren die ihr in Liebe verfallenen sterblichen Seelen Tyrias. Männer und Frauen aus allen Rassen, die Tyria einmal bevölkert hatten oder es gerade tun. So hatte sie nicht die Massen an Dienern wie Melandru oder Kormir, aber dafür waren sie ihr bedingungslos ergeben und schufteten härter als die Diener der anderen.

Als Grenth den Platz von Dhuum eingenommen hatte, hatte sie mit ihm ausgehandelt, dass er ihr die Seelen schickte, die in Liebe zu ihr gestorben waren. Als Gegenleistung hatte sie versprochen, sich wirklich gut um sie zu kümmern, denn schließlich hatten diese Seelen nichts Falsches getan. Und so bekam die Göttin der Schönheit ihre kleine liebestrunkene Dienerschaft zusammen. Sie versuchte sich auch wirklich jeden Namen zu merken, aber mit der Zeit waren es dann doch so viele geworden, dass sie die Namen immer wieder durcheinander brachte. Und wenn Lyssa nicht aufpasste, dann arbeiteten diese Seelen wirklich ununterbrochen, um ihr zu gefallen, was ihr durchaus schmeichelte, aber mitunter auch anstrengend war, da sie ihre Diener regelrecht zur Pause zwingen musste.

Als sie durch die Gänge und Räume ging, erstrahlten die Augen ihrer Diener bei ihrem Anblick. Lyssa sonnte sich ein wenig in deren Aufmerksamkeit und schenkte jedem ein freundliches Lächeln. Nachdem sie die ersten Räume hinter sich gelassen hatte, hörte sie, wie ihre Untergebenen ein paar Lieder anstimmten.


„Deine Augen strahlen heller als ein Stern am Himmelszelt.

Du bist meine Sonne, mein Herz brennt nur für dich …


Als ich zum ersten Mal dich vor mir stehen sah,

wusste ich sogleich, dass mein Leben deins nun war …”


Die meisten der Lieder, die hier im Reich gesungen wurden, waren Liebesgeständnisse ihrer Diener an ihre Göttin. Im Laufe der Jahrhunderte hatte Lyssa schon nahezu jede Variante gehört, wie man Liebe und Gefühle umschreiben konnte, aber dennoch freute sie sich immer wieder, wenn sie diese zu hören bekam. Schließlich hatten sich die Seelen Mühe gegeben, diese Texte zu verfassen, und das wollte sie auch gerne honorieren.

So tanzte Lyssa also ein wenig durch die Gänge, während die Lieder aus allen Richtungen sie umschwirrten. Mit so einer positiven Stimmung um sie herum machte die Arbeit auch fast schon wieder Spaß und eine Idee für den Wintertag würde so auch sicherlich wie von selbst kommen. So schickte Lyssa vergnügt Inspiration und Kreativität in die Herzen der Neugeborenen in ganz Tyria.


„So unerreichbar du auch bist, so geb’ ich mich dir hin.

Schenk mir nur ein Lachen und ich bin glücklich wie noch nie …”

Kapitel 12: Schmerzhafte Erinnerungen


Jahr 1333 n. E., Tag 198, Jahreszeit der Stecklinge


Wieder einmal geschafft von der Arbeit saßen Dwayna und Grenth in der Villa am Tisch und tranken eine Tasse Kaffee, versetzt mit Wüstengewürzen. Die Kanne stand in der Mitte und das sanfte Aroma hatte sich im ganzen Raum verteilt.

„Diese Ruhe gibt es hier viel zu selten”, murmelte Dwayna zufrieden.

Grenth antwortete: „Ja, wir sollten sie genießen, solange Lyssa und Balthasar noch nicht hier sind.”

Die Göttin des Lebens seufzte: „Ja, seitdem Balthasar ihr den Spiegel gestohlen hat, streiten sie sich fast jedes Mal, wenn sie sich sehen. Ich bin es langsam wirklich leid. Sie sollten es wirklich besser wissen.”

„Nun, ich kann in gewisser Weise beide verstehen. Lyssa wurde etwas aus ihrem Reich gestohlen und Balthasar hat sich deswegen nie entschuldigt, hat nicht das geringste Anzeichen von Reue deswegen gezeigt. Und er wiederum fühlte sich von den Sterblichen hintergangen, verspottet und verlassen, was jemandem mit so großem Stolz schon sehr schwer zu schaffen machen kann. Ich kann verstehen, dass er das ändern wollte, allerdings billige ich seine Methoden natürlich in keinster Weise.

Es war auf jeden Fall die falsche Entscheidung, die Sterblichen in einen Krieg zu stürzen, nur um nicht der Angst zu erliegen, von ihnen vergessen zu werden. Ich bin froh, dass die Tyrianer dieses Problem selber lösen konnten, ohne dass wir eingreifen mussten. Sonst hätten wir die Welt der Sterblichen womöglich an den Rand des Abgrund geführt”, erwiderte Grenth ruhig.

„Ja, du hast Recht.”

Dwayna schauderte: „Ich erinnere mich noch gut an den Kampf gegen Abaddon und was dieser den Ländern der Sterblichen angetan hat. Tod und Zerstörung, Hass und Leid, Verzweiflung und Traumata. Wir brachten den Menschen so viel Schlimmes während dieses Kampfes, dass es mich heute noch schmerzt. Und dann kam Balthasar und begann diesen Albtraum von Neuem. Wieder wurden die Länder Tyrias von Krieg überzogen, begonnen von einem von uns. Manchmal frage ich mich, ob wir es wirklich verdient haben, von den Menschen als Götter verehrt zu werden. Wir haben all diese Macht und können doch nur so wenig tun.”

„Da muss ich dir widersprechen, liebe Dwayna. Wir tun eine Menge, es ist nur nicht direkt sichtbar für die Sterblichen. Wir geben ihnen Hoffnung und einen Weg in die Zukunft. Wir ermöglichen es ihnen, sich frei zu entfalten, ihre eigenen Wege zu gehen. Wir schenken ihnen die Kraft zu leben, kreativ zu sein. Wir geben ihnen Stärke und den Sinn für Gerechtigkeit, den Wunsch zur Wahrheit und die Liebe zur Harmonie und zum Frieden.

Wir mögen nicht allmächtig sein, aber wer ist das schon? Die Menschen sehen in uns ihre Götter und das gibt ihnen Kraft, auch die schlimmsten Situationen zu überstehen. Selbst die Charr sehen in uns einen Anreiz, sich selbst zu übertreffen, um letztendlich uns zu übertreffen. Wir treiben die Rassen zu neuen Herausforderungen an, die sie überwinden, und machen sie so stärker. Ist es nicht das, was Göttern tun sollen? Und ist es nicht das, was wir auch jetzt gerade tun?” meinte der Gott des Eises ruhig.

„Du hast Recht, Grenth. Was täten wir nur ohne deine Stimme der Vernunft?”, erwiderte Dwayna. „Ich hoffe wirklich, dass du nicht ebenfalls irgendwann auf die Idee kommst, irgendein Unbill gegen dich mit Krieg lösen zu wollen. Es würde mich sehr schmerzen, gegen dich kämpfen zu müssen oder dich gegen die Sterblichen kämpfen zu sehen.”

„Und mir noch mehr Arbeit aufhalsen, als ich jetzt schon habe?”, lachte Grenth leise. „Glaube mir, Dwayna, ich bin wahrlich der Letzte, der so etwas tun wird. Ich habe jetzt noch mit den Auswirkungen von Abaddons fast geglücktem Ausbruch zu kämpfen, nicht zu reden von Balthasars Wüten bei den Sterblichen und den Kämpfen der Sterblichen gegen die Alt-Drachen. Ich werde sicher nicht freiwillig einen Krieg starten, damit ich noch mehr Arbeit bekomme.”

Dwayna antwortete: „Das freut mich zu hören und es tut mir wirklich leid, dass du durch Balthasar so viel zu tun hast.”

Grenth winkte ab: „Das wird sich schon wieder regeln. Meine Schnitter und ich haben inzwischen ja auch ein wenig Übung bekommen, mit so etwas zurecht zu kommen.

Aber da wir gerade von der Arbeit reden: Ich muss dann wieder. Manche Arbeit muss man selber erledigen, damit sie vom Tisch ist.” Damit stand der Gott des Todes auf und verschwand in sein Reich. Dwayna blieb noch ein wenig sitzen und dachte über die Zukunft der Sterblichen nach.

Kapitel 13: Die Magie des Eises


Jahr 1333 n. E., Tag 204, Jahreszeit der Stecklinge


Im Reich von Grenth. In langen Reihen standen und saßen die Diener Grenths vor ihm. Grentche und Skelette, Rauchphantome und die Schnitter. Sie alle hörten aufmerksam den Worten ihres Gebieters zu.

„Der Wintertag in den Reichen der Nebel rückt näher und auch wir werden unseren Beitrag dazu leisten. Der Tod und das Richten der Seelen, die zu uns kommen, sind wenig passend für ein Fest der Zusammenkunft und der Hoffnung, des Friedens und der Liebe. Doch haben wir auch noch andere Kräfte, mit denen wir aufwarten können.”

Damit begann er, Eis in seiner Hand zu erschaffen. Zuerst eine handvoll Klumpen, die über seiner Hand schwebten, dann führte Grenth seine andere Hand darüber und formte die Eisklumpen zu kleinen Formen. Eine Schneeflocke, ein Haus, ein Baum, ein Mensch.

„Dies, meine Diener, wird unser Beitrag werden. Wir werden Figuren aus Eis formen und diese in den Reichen meiner Mitgötter verteilen. Mir wurde gesagt, dass jeder von euch im Stande ist, Eis zu formen. Deswegen habe ich euch heute zu mir gerufen. Euch wird die Aufgabe zukommen, bis zum Ende dieses Jahres genügend Formen herzustellen. Lasst eurer Fantasie freien Lauf und formt, was euch gefällt. Denkt dabei an die Freuden des Lebens, denkt an eure Freunde. Denkt daran, was andere lieben würden. Tobt euch aus und zeigt mir, was ihr könnt. Es sind euch keine Grenzen gesetzt. Ihr könnt kleine Figuren erschaffen oder auch große Skulpturen. Die Entscheidung liegt bei euch. Meine Schnitter und ich werden euch helfen, solltet ihr Schwierigkeiten haben, doch fangt jetzt an zu üben, denn wir haben nicht mehr viel Zeit.”


Mit diesen Worten verteilten sich die Schnitter und Grenth zwischen den Reihen, beobachteten die ersten Versuche, das Eis in verschiedene Formen zu bringen, und halfen, wo es nötig war. Am Anfang ging es noch recht zögerlich voran. Die Grentche und Skelette waren solch eine Art von Arbeit nicht gewohnt, denn normalerweise mussten sie viel härter arbeiten. Die Rauchphantome hingegen waren nicht die fantasievollsten und formten eher einfache Dinge.


Nach einer Weile jedoch legten sich bei den ersten die Hemmungen und die Formen wurden kreativer. Vor allem die Grentche begannen, an dieser Arbeit viel Spaß zu entwickeln und starteten teilweise richtige Wettbewerbe, wer mehr Formen hervorbringen konnte oder wessen Formen kreativer und skurriler waren.

Grenth sah dieser Entwicklung zufrieden zu und zog sich alsbald zurück. Seine Schnitter würden die Formen nun nach und nach einsammeln und sie zu ihm bringen. Grenth oblag es dann, diese Formen so mit Magie zu stärken, dass diese nicht schmelzen würden, sobald sie in die anderen Reiche gebracht würden. Und schon bald hatte auch der Gott des Eises alle Hände voll zu tun, die Unmengen kleiner Eis-Skulpturen seiner Diener haltbar zu verzaubern, und bekam dabei alle möglichen Formen zu Gesicht. Er war durchaus erstaunt, welche Fantasie in seinen Dienern steckte.

Kapitel 14: Portalkalibrierungen


Jahr 1333 n. E., Tag 229, Jahreszeit der Stecklinge


Im Reiche Dwaynas. Strebsam flogen die Luftelementare und Stürme zwischen den Inseln hin und her. Schneemänner arbeiteten unermüdlich an der Herstellung neuer Gegenstände. In allen Teilen des Reiches wurde Holz, Lava, Wasser, Erde und noch vieles mehr gesammelt. Auch aus den anderen Reichen wurde Material geliefert. Dwayna hatte mithilfe der anderen Götter direkte Portale zu ihrem Reich geschaffen, durch die nun ein endloser Strom an Luftelementaren und Stürmen ein- und ausgingen und die Dinge besorgten, die in ihrem eigenen Reich langsam etwas rar wurden.


Die Schneemänner standen in kleinen Armeen auf den großen Inseln und schufen Spielzeuge, nützliche Gegenstände, Kleidung und Dinge, die einfach nur hübsch anzusehen waren und vor sich hin funkelten. Anschließend wurden die fertigen Sachen zu Dwayna gebracht, die ihnen Leben einhauchte, um sie dann aber gleich darauf mit einem Schlafzauber zu belegen. Weitere Schneemänner nahmen diese schlafenden Gegenstände dann vorsichtig entgegen und verpackten sie behutsam, bevor sie diese auf passende Stapel legten.

Dwayna atmete einmal kurz durch und blickte sich um. „Wir kommen gut voran, oder nicht?”, fragte sie einen Schneemann, der gerade auf einem Luftelementar an ihr vorbei ritt. Er nickte.

„Ja, Herrin, wir liegen gut in der Zeit. Doch uns gehen die Metalle und das Feuer bald aus. Die Wirbelstürme haben Probleme, sie aus dem Reich des Feuergottes zu transportieren.”

„Ich werde mich darum kümmern. Danke für deinen Bericht”, antwortete Dwayna. Schnell begab sie sich zum Portal, das kurzfristig eingerichtet worden war und ihr Reich mit dem von Balthasar verband.


Dort sah sie sich einer Schlange von Wirbelstürmen und Luftelementaren gegenüber, die darauf warteten, das Portal zu nutzen. Es war jedoch in sich zusammengesunken und verzerrt. Nur wenige ihrer Diener trauten sich hindurch und kamen dann zumeist sehr benommen wieder heraus. Als sie merkten, dass die Anführerin der Götter kam, um sich des Problems anzunehmen, machten sie Platz und hielten sich respektvoll zurück. Dwayna schaute sich das Portal an und ließ dann Magie hineinfließen. Die Verzerrung verschwand und der Durchgang besaß bald wieder seine volle Größe.


Nachdem sich die Göttin der Luft und des Lebens ein wenig entfernt hatte, strömten ihre Diener sofort zum Portal und nahmen ihre Arbeit wieder auf. Eine Weile beobachtete sie das Treiben noch und ging dann zufrieden wieder zurück. Dwayna war nur seit ein paar Minuten wieder auf ihrer Insel und hauchte den Dingen vor ihr Leben ein, als der nächste Schneemann zu ihr kam. „Herrin, das Portal zum Reich der Erdgöttin Melandru ist in sich zusammengesunken. Ein Luftelementar ist noch darin gefangen.”

Die Göttin seufzte: „Ich bin sofort auf dem Weg.”

Die Produktion ging gut voran, doch wenn sie weiterhin so von Problemen vereinnahmt würde, würde sich ihre eigene Arbeit immer mehr vor ihr stapeln. Während Dwayna zum nächsten Portal schritt, um es zu reparieren, dachte sie darüber nach, wie man der Instabilität der Portale entgegenwirken könnte.

Kapitel 15: Immer Ärger mit den Toten


Jahr 1333 n. E., Tag 238, Jahreszeit der Stecklinge


Als Lyssa die Villa betrat, saß Grenth schon auf einem der Stühle. Er hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen, doch ging von ihm eine Kälte aus, die alles im Raum mit einer Schicht Frost überzog.

„Ein wenig kalt hier”, meinte sie zum Gott des Eises. Dieser reagierte jedoch überhaupt nicht auf sie. Fröstelnd beschwor Lyssa einen Pelzmantel herauf und setzte sich dann auf einen Fenstersims. Eisblumen, heraufbeschworen durch die Kälte Grenths, zierten die Fenster und Lyssa betrachtete eine zeitlang die geschwungenen Formen.

Da Grenth nicht reagiert hatte und die Kälte auch nicht weniger wurde, hielt sie es nach einer Weile nicht mehr aus und fragte: „Was ist denn los? Redest kein Wort und verwandelst dieses Reich der Nebel in eine Eishöhle.”


Endlich regte sich Grenth und sah Lyssa an. „Tut mir leid, aber ein paar Seelen bereiten mir gerade wieder sehr viel Ärger und ich muss mich erst einmal ein wenig beruhigen, bevor ich mich wieder mit ihnen befassen kann, ohne sie in Stücke zu zerreißen, wenn ich sie wiedersehe.”

„Die üblichen drei?”, fragte Lyssa.

„Natürlich”, brummte Grenth. „ Shiro Tagachi, Wesir Khilbron und dieser Palawa Joko! Alle drei größenwahnsinnig, aber nicht dumm in der Birne.”

„Was haben sie denn wieder angestellt?”

„Ach, nur das Übliche, aber es ärgert mich dennoch immer wieder über alle Maßen. Sie sind aus ihren Gefängnissen ausgebrochen und haben wieder begonnen, eine Rebellion zu starten und Macht zu sammeln, damit sie durch irgendeinen hinterhältigen Trick wieder in die Welt der Sterblichen kommen können, um dort ihren Wahn einer Weltherrschaft auszuleben.

Ich habe natürlich gleich Gegenmaßnahmen getroffen, aber es ist einfach nur nervig und frustrierend. Sie geben einfach nicht auf und halten mein Reich ständig auf Trab. Und zu allem Überfluss haben die beiden Lichs auch noch angefangen zusammenzuarbeiten, was es für mich nicht gerade einfacher macht. Ein Jahr! Nur ein Jahr Ruhe vor diesen Unruhestiftern und ich wäre schon zufrieden.” Grenth seufzte und hielt sich eine Hand an seinen Kopf.

„Gib ihnen doch einfach, was sie wollen”, schlug Lyssa leichthin vor.

Grenth blickte auf und schaute sie einfach nur stumm an.

„Naja, nicht wirklich“, meinte die Zwillingsgöttin weiter. „Erschaffe ihnen einfach eine Gedankenwelt, in der jeder von ihnen ein Tyria nach seinen Wünschen regiert”, erläuterte sie.

„Wenn das nur so einfach wäre. Aber ich besitze nicht die Fähigkeit, ihnen derart machtvolle Gedanken einzuflüstern”, seufzte er leise. „Nein, ich kann nur wieder ein neues Gefängnis bauen, sie dorthin verfrachten und hoffen, dass es dieses Mal ein wenig länger dauert, bis sie wieder eine Lücke gefunden haben, durch die sie hindurchschlüpfen können.”

Inzwischen hatte sich der Gott des Todes wieder ein wenig beruhigt und unter Kontrolle und der Raum erwärmte sich langsam, die Eisblumen zerliefen und schließlich zeugten nur noch feine Wassertröpfchen von ihrer einstigen Pracht. Lyssa zog ihren Mantel wieder aus und setzte sich an den Tisch.

„Ich könnte ihnen ganz einfach so eine Welt vorspielen.”

„Das könntest du, aber deine Macht wird außerhalb deines Reichs stark begrenzt, damit alles im Gleichgewicht bleibt. Oder wollen wir vielleicht unsere Aufgaben tauschen?”, fragte Grenth mit einem Anflug guter Laune.


Lyssa stellte sich vor, wie sie sich um die ganzen toten Seelen, das Reich Grenths und seine Diener kümmerte und schüttelte sich bei dem Gedanken innerlich.

„Nun, so reizvoll das auch wäre, ich glaube, ich bleibe bei dem, was ich jetzt mache”, antwortete sie.

Grenth lachte ein wenig: „Jedem das seine, Lys. Ich glaube kaum, dass ich ununterbrochenes Singen aushalten würde oder dass mir Spiegel alle paar Schritte zeigen würden, wie düster ich auf andere wirke. So sehr mich diese drei auch ärgern, so ist mir mein Reich und meine Aufgabe doch sehr wichtig. Und jetzt genug Trübsal geblasen, ich habe ein paar Seelen in ihre Schranken zu weisen und einen Aufruhr zu verhindern.”

Damit stand der Gott des Todes entschlossen auf, verließ den Raum und ließ dort eine Lyssa allein zurück, die ihre Beine ausstreckte und nun verträumt aus dem Fenster sah.

Kapitel 16: Ein neuer Vorratsraum


Jahr 1333 n. E., Tag 247, Jahreszeit der Stecklinge


Das Reich Kormirs. Geschäftig fuhr Wagen um Wagen durch die riesige Bibliothek. Jeder von ihnen war voll beladen mit Essen und Trinken. In mehreren Reihen fuhren sie von den Vorratskammern zu den Küchen, um diese ununterbrochen mit Fleisch, Gemüse, Obst, Gewürzen und allen Arten von Getränken zu versorgen. Weitere Unmengen an Wagen verließen wiederum die Küchen mit fertigen Speisen und fuhren zügig zu einem großen Portal, das in das Reich Grenths führte. Kormir hatte den Gott des Eises darum gebeten, dass ein Teil des Essens, das für die Wintertag-Feierlichkeiten gedacht war, bis zum Fest dort tiefgefroren aufbewahrt würde. Grenth hatte ihr schnell einen Teil seines Reiches zur Verfügung gestellt und sogleich hatten Kormirs Diener damit begonnen, diesen Teil des Reiches mit Speisen und Getränken vollzustellen.


Doch nun kamen langsam andere Speisen an die Reihe, die nicht gekühlt werden sollten, und deswegen hatte Kormir Lyssa in ihr Reich eingeladen, um über dieses Problem zu reden.

„Wie du siehst, sind meine Diener wirklich eifrig dabei zu kochen und zu backen, aber so langsam kommt der Kühlbereich, den Grenth mir zur Verfügung gestellt hat, an seine Grenzen und wir müssen auch damit beginnen, Speisen herzustellen, die nicht gekühlt werden dürfen”, erläuterte Kormir noch einmal die Situation.

Sie und Lyssa saßen an einem Tisch und beobachteten das geschäftige Treiben.


Lyssa aß gerade genussvoll einen Becher Eis und fragte zwischen zwei Happen: „Und wie kann ich dabei helfen?”

„Nun, ich hatte mir gedacht, dass du vielleicht die Speisen und Getränke, die wir demnächst herstellen werden, so verzaubern könntest, dass ihre Zeit stillsteht. Dann müssten wir sie nur noch sicher aufbewahren”, stellte Kormir ihre Idee vor.

Aber Lyssa schüttelte sofort den Kopf. „Das wird nicht gehen. Ich kann die Zeit dehnen und stauchen, aber anhalten kann ich sie nicht, dazu reicht meine Magie bei Weitem nicht aus. Außerdem wären das viel zu viele Sachen, die ich verzaubern müsste, selbst, wenn ich dazu in der Lage wäre.”

„Nun, das hatte ich befürchtet”, seufzte Kormir.

„Aber, ich könnte einen Raum verzaubern, in dem die Zeit nur sehr langsam voranschreitet”, antwortete Lyssa.

„Und das wäre einfacher für dich?, fragte die Göttin der Ordnung.

„Viel einfacher. Es wird natürlich immer noch eine Menge Magie erfordern, einen Raum zu verzaubern, der groß genug ist, aber auf jeden Fall machbar. Alles, was sich in diesem Bereich befindet, altert dann nur noch langsam,” erwiderte Lyssa und kratzte die letzten Eisstücke aus dem Becher.

„Wie stark kannst du die Zeit denn verlangsamen?, fragte Kormir weiter.

Lyssa überlegte ein wenig und sagte dann: „Wenn wir jetzt etwas in so einen Raum stellen würden, dann würden dort vielleicht zwei Tage vergehen bis zu den Wintertag-Feierlichkeiten.”

„Das wäre wunderbar”, rief Kormir glücklich, „dann müssten wir die Sachen später nur noch rausholen und kurz aufwärmen. Bitte, Lys, wann könntest du denn diesen Raum fertig haben?”

Die Göttin der Schönheit überlegte wieder ein wenig. Schließlich meinte sie: „Ich denke, wenn ich mich damit beschäftige, sobald ich wieder in meinem Reich bin, in fünf oder sechs Tagen Tyrias.”

„Sehr gut, ich werde dann ein Portal zu deinem Reich aufbauen, damit wir ohne große Umwege dorthin gelangen können”, antwortete Kormir froh und bestellte noch einmal eine Portion Eis für Lyssa und für sich selbst.

Kapitel 17: Auch ein Gott muss mal den Hammer schwingen

Jahr 1333 n. E., Tag 256, Jahreszeit der Stecklinge


Balthasars Reich. Zügig schritt Balthasar durch sein Reich und inspizierte die verschiedenen Schmieden und die Arbeiten, die seine Diener dort verrichteten. Seine Idee für den Wintertag war, eine Variante seiner Geschmiedeten zu bauen, die nicht für den Kampf gedacht war, sondern als wandelnde Dekoration. Er ließ seine Diener Hasen, Rentiere, Füchse und vieles mehr bauen und füllte diese dann mit dem Feuer seines Reiches und seiner Magie, um eine Imitation von Leben bei ihnen zu ermöglichen. Allerdings scheiterte seine Idee schon bei der Herstellung dieser metallenen Tiere, denn seine Geschmiedeten kannten die wenigsten Lebewesen, die Balthasar vorschwebten, und sie hatten überhaupt kein Auge für geschwungene Linien und Eleganz. Die Tiere, die seine Diener erschufen, sahen noch ziemlich klobig aus und oft waren noch irgendwelche Waffen mit eingeschmiedet, da sie bisher nur Waffen hergestellt hatten, wofür Balthasar sie ja auch ursprünglich geschaffen hatte.


„Keine verdammte Kanone an den Kopf, hab ich gesagt!”, brüllte der Gott des Feuers einen seiner Diener an. „Du sollst ein Geweih schmieden.” Mit Magie zeigte er dem Geschmiedeten ein Abbild eines Rentiers und zeigte auf dessen Geweih.

„So soll das aussehen. Krieg das in deinen verdammten Kopf hinein!”

Wütend stolzierte er weiter. Wenn das so weiterging, würde er diesen Wettbewerb der Machtdemonstration noch verlieren.


Ein paar seiner Diener hatten zwar schon begriffen, wie sie Tiere nach seinen Vorstellungen bauen konnten, aber das war noch die Minderheit – und der Wintertag rückte immer näher heran. Und dann musste er sich auch noch um ein Geschenk für seine Mitgötter kümmern. Er musste zwar nur ein Geschenk finden, denn sie hatten sich auf eine feste Reihenfolge geeinigt, die bei jedem Wintertag um eine Stelle weiterging, aber auch das war schon nicht wenig, denn schließlich ging es hier um eine Gottheit, die beschenkt werden sollte. Da konnte man nicht mit ein paar einfachen Tieren aus Metall ankommen. Auch dahingehend hatte Balthasar schon eine Idee, aber er kam einfach nicht dazu, sich darum zu kümmern, da er alle Hände voll zu tun hatte, die Fehler seiner Diener auszumerzen und ihnen einzubläuen, wie die Tiere am Ende aussehen sollten. Inzwischen war er dazu übergegangen ein paar Beispieltiere selber zu schmieden, damit seine Diener sie einfach nur stumpf nachbauen konnten.


‚Das zumindest sollten sie noch hinbekommen‘, dachte er wütend, beendete seinen Rundgang und schritt zurück zu seinem Amboss, um ein richtiges Rentier zu schmieden. Zum Glück beruhigte ihn das Schmieden immer wieder und er empfand auch Freude darüber, mit einem Hammer auf Metall zu schlagen, um es in eine bestimmte Form zu bringen. So gesehen hatte die ganze Misere auch etwas Gutes, denn selber schmieden tat Balthasar inzwischen eigentlich nur noch wenig. Und wenn er mit seinem Rentier fertig war, wäre er bereit für den nächsten Rundgang, um zu entscheiden, welches Tier er als nächstes für seine dummen Diener vorschmieden durfte.

Kapitel 18: Göttergeburt


Jahr 1333 n. E., Tag 269, Jahreszeit der Stecklinge


„Diese Grawle sind schon faszinierende Wesen, findest du nicht auch?”, fragte Kormir Melandru.

„Zumindest interessanter als diese Skritt”, befand die Göttin der Erde.

„Ich habe angefangen mich ein wenig mit ihnen zu beschäftigen und ich finde, dass sie ein sehr spirituelles Volk sind”, plauderte Kormir weiter.

„Die Skritt oder die Grawle?”, fragte Melandru.

„Die Grawle natürlich”, antwortete die Göttin der Wahrheit. „Sie sind immer auf der Suche nach ihrem Gott, nur leider sehen sie ihn in jedem Gegenstand, der auch nur ein wenig merkwürdig aussieht, aber eben überhaupt nichts Göttliches an sich hat.”

„Naja, Spiritualität und alles anbeten, was irgendwie komisch aussieht, ist wohl kaum dasselbe, wenn du mich fragst. Mir scheint fast, dass jeder Grawl seinen eigenen Gott anbetet”, meinte Melandru etwas skeptisch.

„Sie sind nur fehlgeleitet, irren umher”, meinte Komir, „doch irgendwann schaffen sie es sicher, sich auf eine Gottheit zu einigen – oder eher auf einen Gegenstand – und dann wird vielleicht tatsächlich ein richtiger Gott der Grawle geboren, hervorgetan aus ihrer Glaubenskraft.”

Aus einer Ecke weiter hinten in der Villa brummte Grenth hinter seiner Zeitung hervor: „Diese Grawle sind aber schon recht überzeugt von sich. Ich hoffe mal nicht, dass das ein wesentlicher Zug ihrer Gottheit werden wird, wenn diese überhaupt mal auftaucht. Mir reicht schon der Sonnengott dieser Frösche, der glaubt, er stehe über allen, nur weil er das Licht in die Welt bringt.”


Alle schauten hinaus aus den Fenstern und hoch zur magischen Sonne. Natürlich war sie nicht der Sitz des Sonnengottes der Hyleks, aber sie erinnerte schon stark daran. Die Gottheit hielt sich für das edelste Wesen unter den Gottheiten und blieb zumeist für sich. Tatsächlich konnten die menschlichen Götter ihre Treffen mit ihr an einer Hand abzählen und diese Treffen waren auch nicht in bester Erinnerung geblieben.

Der Sonnengott sah auf sie alle herab und hatte immer wieder betont, dass ohne sein Licht überhaupt kein Leben auf Tyria möglich wäre. Dass es die Sonne auch schon vor seiner Geburt gegeben hatte, ignorierte er geflissentlich. Auch hatte er sich bisher noch nicht dem Volk gezeigt, dem er seine Geburt verdankte, den Hylek. Dieses Volk glaubte zwar nicht an Gottheiten, aber dank ihres Glaubens an die Sonne war dennoch ein Gott geboren, der es jedoch unter seiner Würde fand, mit anderen außer sich selbst Zeit zu verbringen.


„Ich hab gehört, dass Dwayna ihm eine Einladung zum Wintertag geschickt hat”, meinte Melandru dann.

„So wie bei jedem Fest und so wie bei jedem Fest wird er auch dieses Mal nicht vorbeikommen”, antwortete Grenth „Soll mir auch recht sein.”

Die anderen beiden nickten zustimmend.

„Ich glaube aber nicht, dass der zukünftige Gott der Grawle so einen Wesenszug haben wird. Der Sonnengott und Balthasar reichen schon”, meinte Kormir optimistisch und lachte leise.

Grenth und Melandru schüttelten über diesen Halbwitz nur ihre Köpfe und dann wandten sie sich anderen Themen zu.

Kapitel 19: Im Reich der Lieder


Jahr 1333 n. E., Tag 281, Jahreszeit des Kolosses


Im Reich Lyssas. „Geliebte Göttin meines Herzens, die besten Sänger stehen bereit, um Euch mit ihren Stimmen zu erfreuen. Sie erwarten gespannt Euer Urteil, wer von ihnen dem Hauptchor beitreten darf”, erklärte Allesto, als er in die Gemächer Lyssa eintrat.

„Ich danke dir, ich werde gleich da sein und sie in Empfang nehmen”, antwortete Lyssa. Er verneigte sich und ging dann wieder.

Lyssa richtete noch kurz ihr Haar, bevor sie Allesto folgte, einen Spiegel durchschritt und sich sogleich in einem großen Raum befand, in dem die Hundert besten Sänger ihres Reiches zusammengetreten waren.

Lyssa hatte irgendwann die Idee gehabt, dass ihr Beitrag zum Wintertag der Gesang ihrer Diener sein könnte. So hatte sie also angefangen, ihre Gefolgsleute in kleine Chöre aufzuteilen, die dann verschiedene Wintertagslieder einübten und begannen, sich aufeinander abzustimmen. Diese Chöre, bestehend aus zumeist 10 bis 15 Personen, sollten dann während der Festtage durch die Reiche schreiten und dort ihre Stimmen erheben. Diese Arbeiten ging auch gut voran. Bei manchen Chören gab es zwar hin und wieder ein paar Streitigkeiten, welche Lieder sie singen wollten, aber mit Zeit würde sich auch das legen, da war sich Lyssa sicher.

Auch gab es in paar Chöre, die fast ausschließlich aus Vertretern einer Rasse bestanden und von denen man dann oft volkstümliche Lieder hörte.

Lyssa freute sich über alle neuen Texte und Melodien, wenn sie durch ihr Reich schritt. Sie erkannte alte Lieder, die sie seit Jahrhunderten nicht mehr gehört hatte, vermischt mit den Liedern der neueren Zeit, Lieder aus Cantha wechselten sich ab mit denen aus den Zittergipfeln und Elona.


„Fern der Heimat singen wir, freudig über diesen Tag,

schauen hoch empor zum Himmel, Freunde nah am Herzen wissend …”


„So legen wir nieder die Waffen zu Boden und singen und tanzen mit Freund und Feind,

denn heute ist der Tag des Friedens, der Freundschaft, Liebe, Heiterkeit …”


Doch für den Saal, in dem die Götter feiern würden, wollte Lyssa nur die besten Sänger haben und die würden nun von ihr ausgesucht werden. Nacheinander traten die Hundert Anwärter nach vorne und zeigten ihr Können. Jede Stimme war wunderschön und Lyssa merkte schnell, dass sie schwere Entscheidungen treffen musste, bevor ihr Hauptchor stehen würde. Innerlich seufzte sie schon etwas, freute sich aber zugleich, als die nächste Person vor sie trat.

Kapitel 20: Alte Zeiten


Jahr 1333 n. E., Tag 298, Jahreszeit des Kolosses


Gemütlich saßen Dwayna und Grenth am Tisch in der Villa und sprachen über die alten Zeiten. Dawyna sagte gerade: „Ich muss immer noch lächeln, wenn ich daran denke, wie viel Spaß unsere Diener hatten, wenn sie sich zum Wintertag der Sterblichen Jahr um Jahr gegenseitig Schneebälle an den Kopf werfen durften.”

„Auch meine Diener hatten ihren Spaß. Meine Grentche hatten sich immer wieder darum geschlagen, wer denn noch hinaus zur Schneeballschlacht durfte. Meine Schnitter mussten mitunter schon härter durchgreifen, um sie wieder zu beruhigen”, antwortete Grenth.

Die Göttin der Luft lächelte: „Meine Schneemänner waren da zum Glück etwas zurückhaltender, aber das liegt wohl auch in ihrer Natur. Dafür haben sie immer wieder gefragt, wann wir diese Schneeballschlachten wieder aufleben lassen würden.”

„Auch meine Grentche fragen sich das immer wieder. Was hast du deinen Diener geantwortet?”, fragte Grenth.

„‚Wenn die Zeit soweit ist.‘ Manchmal ist es schon recht nützlich, eine Göttin zu sein, dann kann man diese vagen Sprüche von sich geben und alle denken, da stecken so viele Zukunftsvisionen und Voraussicht drin, dass gar nicht auffällt, dass wir uns darüber eigentlich noch keine Gedanken gemacht haben”, antwortete Dwayna.

Grenth lachte leise: „Diese Taktik wähle ich auch sehr gerne, auch wenn sie an die Rauchphantome ein wenig verschwendet ist. Aber es ist oft lustig anzusehen, wie sich dann bei meinen Grentchen ein Fragezeichen im Gesicht bildet. Was meinst du, Dwayna, sollten wir vielleicht wirklich wieder die Schneeballschlachten einführen?”

„Wenn die Zeit soweit ist”, antwortete Dwayna ernst.


Grenth schaute sie kurz an, dann begannen beide zu lachen. „Nun, das habe ich wohl verdient”, meinte der Gott des Eises.

„Ich hätte wirklich nichts dagegen, wieder solche Festspiele zu veranstalten, aber ich wäre nicht so begeistert, wenn es wieder Schneeballschlachten wären. So lustig sie auch waren, sind gerade einmal 250 Jahre vergangen, seit wir sie veranstaltet haben. Etwas anderes wäre mir viel lieber, ein wenig Abwechslung”, sinnierte Dwayna.

Grenth stimmte ihr zu: „Ja, du hast Recht, ein wenig Abwechslung wäre schon sehr nett. Wir können es ja mal in der großen Runde ansprechen. Vielleicht fühlen sich ein paar der anderen angesprochen und wollen ebenfalls für den nächsten Wintertag neue Spiele entwickeln, schließlich müssen es nicht nur wir beide sein, die so etwas auf die Beine stellen.”

„Oh, darüber würde ich mich wirklich sehr freuen”, antwortete Dwayna, „mal Zuschauerin zu sein und einfach nur zu genießen.”

Ein paar Minuten lang sprachen sie noch über dieses und jenes, aber schon bald rief die Arbeit und die beiden trennten sich wieder, um in ihre Reiche zurückzukehren.

Kapitel 21: Die Festhalle der Götter


Jahr 1333 n. E., Tag 312, Jahreszeit des Kolosses


Wieder einmal hatte Dwayna die Götter in der Villa versammelt. Kormir, Grenth, Melandru und Dwayna saßen an dem großen Tisch und aßen ein wenig Gebäck, während Lyssa am Fenster hockte, die Wärme der Sonne genießend, und Balthasar an einer Wand lehnte und die anderen beobachtete.

Nachdem Dwayna mit Kormir ein Thema zu Ende besprochen hatte, erhob sie sich und bat alle Anwesenden um Aufmerksamkeit.

„Danke, dass ihr euch alle hier eingefunden habt und auch ein wenig Zeit mitgebracht habt. Der Wintertag nähert sich und damit auch die Festlichkeiten hier in den Nebeln. Ich hoffe, dass eure Vorbereitungen gut vorankommen.”

Kormir antwortete: „Dank Grenth und Lyssa sollte es während der Festtage genügend Speisen und Getränke geben.” Dankend nickte sie den beiden zu.

„Auch bei mir gibt es kaum Schwierigkeiten”, meinte Melandru. „Die Bäume bereiten sich derzeit auf die Reise in eure Reiche vor und sind voller Lebensenergie.”

Balthasar brummte: „Meine Diener machen ihre Arbeit, aber ich würde nur ungern mehr Zeit als nötig hier verbringen, da ich selbst mehr mit Hand anlegen muss als ihr.”

Dwayna nickte zu all dem und erwiderte: „Dann lasst uns nicht lange müßig herumsitzen, denn, wie Balthasar schon sagte, wir haben noch einiges vor uns. Ich habe euch zusammenrufen lassen, weil wir nun einen Ort erstellen wollen, an dem das Fest beginnen soll – der Hauptort, von dem alles ausgehen soll. Ich habe dabei an eine große Halle gedacht mit verzierten Säulen und Wänden, die im Licht dutzender Kronleuchter erstrahlen. Hat jemand einen anderen Vorschlag?”

„Wenn wir der Halle genug große Fenster mitgeben, dann bin ich damit einverstanden”, antwortete Melandru. „Denn man sollte immer die Möglichkeit haben, von einem warmen Ort aus die Schönheit des Winters zu betrachten.”


Dwayna nickte zustimmend und die anderen Götter fügten auch noch ihre Wünsche hinzu. Kormir wollte viele kleine Tische haben anstatt weniger Großer. Balthasar wollte noch ein paar Flammen speiende Gargoyle haben, was jedoch von den anderen Göttern abgelehnt wurde. Sie einigten sich aber als kleine Versöhnung auf Funken sprühende Fontänen. Lyssa wünschte sich einen großen Spiegelsaal. Auch das wurde nur auf eine Tanzfläche reduziert.

Nachdem sie sich also auf die Einzelheiten geeinigt hatten, begannen sie damit, diesen Vorstellungen nach und nach mit Magie Gestalt zu verleihen. Die Villa wurde größer, es entstand zuerst ein Skelett der großen Halle, die Säulen und Wände kamen hinzu, dann Fenster und Decke. Die Götter ließen ihre Macht aus sich herausströmen, sich vereinigen und überall hin verteilen. Die Säulen erhielten Verzierungen, die Tanzfläche entstand, spiegelglatt, überall verteilt erschufen sie kleine Tische und Funkenfontänen. Außerhalb der Halle erschufen sie die Illusion von Schneetreiben, das man durch große, hohe Fenster betrachten konnte.


Nach getaner Arbeit setzten sich alle Götter erschöpft hin und betrachteten ihr Werk. „Sieht gut aus. Ein paar Kleinigkeiten gibt es noch zu ändern, aber wir haben gut zusammengearbeitet”, meinte Dwayna nach einem kurzen Rundumblick. Die anderen waren auch zufrieden mit dem Werk und nach nach gingen sie wieder in ihre Reiche zurück, um sich dort zu erholen und ihre Vorbereitungen für den Wintertag fortzuführen.

Kapitel 22: Aufräumarbeiten


Jahr 1333 n. E., Tag 331, Jahreszeit des Kolosses


Grenths Reich. Voller Eifer schubsten sich die Grentche hin und her und hoben tote Blätter und Äste auf oder schafften Steine aus dem Weg. Das Reich des Todes, so düster es auch war, sollte doch zumindest aufgeräumt sein, wenn die Festlichkeiten begannen und die Pforten für alle Diener der anderen Götter geöffnet wurden. Andere Grentche hatten begonnen, ihre Kleidung ein wenig auszubessern und längst überfällige Risse und Löcher zu flicken, auch wenn die Ergebnisse nicht unbedingt besser aussahen als vor ihren Nähkünsten.


Im Reich Melandrus. Die Bäume, die Melandru für den Wintertag ausgesucht hatte, wanderten langsam in Richtung der Portale zu den anderen Reichen oder wurden hingetragen. Unmengen an Kobolden fegten die ganzen Nadeln auf, welche die Bäume hinterlassen hatten. Überall schwirrten sie umher und putzten jedes Blatt, jede Rinde und jeden Stein, den sie in ihre kleinen Finger bekamen.


Das Reich Kormirs. Auch die Eulen und Füchse hier waren eifrig dabei, ihr Reich auf Hochglanz zu polieren. Bücherstapel wurden eilig in die Regale gepackt und der Wüstensand hinausgekehrt. Kormirs Diener begannen, sich nach und nach zu striegeln und zu putzen, bis ihre Felle glänzten und die Schnäbel blitzten, und versuchten nun den geliebten Wind und Sand zu meiden, damit ihre Anstrengungen nicht umsonst waren.


Dwaynas Reich. Während immer noch viele Schneemänner dabei waren, Geschenke zu basteln, waren andere dabei, die Überreste einzusammeln und auf einen großen Haufen zu packen. Hier trugen sie ein paar Tropfen Wasser oder Holzspäne zusammen, da Reste von Geschenkpapier oder die Funken eines Feuers und dort einen Lufthauch, der übrig war, oder zerbrochene Werkzeuge. Später sollte dieser große Haufen dann auf einmal beseitigt werden und das Reich der Luft würde wieder sauber sein.


Das Reich Balthasars. Geschmiedete polierten ihre Ambosse, Hämmer oder andere Geschmiedete auf Hochglanz und die Ewigen Krieger gingen mit Besen und Schaufel durch das Reich, um jeden Rußfleck und alle Metallspäne zu beseitigen. Balthasar ging dann die Räumlichkeiten noch einmal durch und ließ immer wieder verschiedene Werkbänke und Öfen umstellen, damit die Bäume aus Melandrus Reich auch ja genug Platz hatten und nicht Gefahr liefen, Feuer zu fangen.


Im Reich Lyssas. Auch in diesem Reich wurde geputzt, gewischt und gefegt. Die Diener von Lyssa hatten nicht so viel zu tun wie die aus den anderen Reichen, was sie jedoch nicht davon abhielt, über jede Stelle dreimal mit dem Tuch drüber zugehen. Auch besserten sie ihre Kleidung aus und erzielten dabei weitaus bessere Ergebnisse als die Grentche von Grenth. Sie polierten jeden Knopf und jede Schnalle. Jedes Kleidungsstück wurde akribisch auf Fransen und Fusseln untersucht.

Kapitel 23: Waldwanderung


Jahr 1333 n. E., Tag 345, Jahreszeit des Kolosses


Melandrus Reich. Ein Wald aus Eiben, Tannen und Kiefern wartete gespannt vor einem geschlossenen Portal, das in eines der Reiche des Pantheons führen sollte. Überall knarrte und knackte es, Blätter wurden geschüttelt und Äste gestreckt. Fünf von diesen Portalen gab und fünf Wälder warteten auf deren Öffnung. Jedes dieser Portale führte in das Reich eines anderen Gottes. Melandru wartete noch auf die Zustimmung der anderen. Nachdem sie diese erhalten hatte, öffnete sie jedes Portal und die Wälder begannen hindurch zu strömen, um ihren zeitweiligen Platz in den anderen Reichen einzunehmen. Die meisten Bäume wurden dabei von Druiden gezogen, die langsam, aber stetig nach vorne stapften. Nur einige wenige Bäume wollten selber vorwärts kommen und krallten ihre Wurzeln Stück für Stück voran in den Boden, um sich dann nach vorne zu ziehen.


Während die Bäume ihren Weg fanden, wurden sie von einer Armee von Kobolden umschwirrt, die schon damit begonnen hatte, die Äste der Bäume mit Kugeln, Sternen und anderen Figuren zu behängen. Girlanden wurden über sie gehängt und Lametta und magischer Schnee überall hin verstreut. Einige wenige Bäume hatten sogar zugestimmt, dass man Kerzen auf ihnen platzieren durfte, bei den übrigen platzierte man kleine leuchtende Kugeln. Auch einige Kobolde hatten sich einverstanden erklärt, für die Dauer des Festes in den Ästen zu wohnen und sie so mit ihrem eigenen Leuchten zu erhellen.


Auf der anderen Seite eines jeden Portals wurden die Bäume schon erwartet und man führte sie zu ihren Plätzen. Während der Festlichkeiten würden sich die Diener jedes Reiches in Schichten um die Bäume kümmern und sie ausreichend mit Wasser versorgen. Die Druiden würden die Aufsicht über diese Arbeiten haben. Mit der Wanderung der Bäume hielt also der Wintertag Einzug in den Reichen der Götter und die Stimmung wurde feierlicher und fröhlicher, egal, wo man sich befand.

Kapitel 24: Wintertag


Jahr 1333 n. E., Tag 358, Jahreszeit des Kolosses


Schließlich war der große Tag gekommen. Der Beginn der Wintertagsfeierlichkeiten stand an und die Götter versammelten sich in der großen Halle. Ihre Diener standen hinter den Türen und warteten gespannt darauf, wie ihre Götter dieses Fest eröffnen würden. Dwayna blickte alle nacheinander an und sagte: „Das Jahr der Vorbereitungen ist vorbei und unsere Diener sind ungeduldig. Lassen wir sie nicht länger warten. Kormir hat Speisen vorbereitet, diese werden später aufgetischt und Melandrus Bäume stehen in allen Reichen geschmückt an ihren Plätzen und erfreuen jeden, der sie sieht.”


Sie alle schauten auf den Baum, den Melandru für diese Halle bestimmt hatte. Er war riesig und prächtig geschmückt. Überall hingen bunte Kugeln und Girlanden und Lametta von ihm herab und Kobolde flogen flink zwischen seinen Ästen hin und her und erhellten so die mächtige Eibe. „Grenth, was hast du für dieses Fest vorbereitet?”, fragte Dwayna

Grenth neigte seinen Kopf und es wurde merklich kühler in der Halle. Ein wenig Schnee begann von der Decke zu rieseln und überall tauchten Figuren und Skulpturen aus Eis auf. Manche schwebten in der Luft, andere standen auf dem Boden oder auf den Tischen. Es gab Sterne, Tiere, abenteuerliche geometrische Figuren, sogar detailverliebte Gemälde und noch mehr zu bestaunen. Die Götter schauten sich um und nickten anerkennend.


„Balthasar”, bat Dwayna als nächstes. Dieser hob seine geballte Faust in die Höhe und brummte ein Wort in seinen Bart. Geschmiedete Tiere tauchten in der Halle auf, Rentiere, Hasen, verschiedene Vögel, Füchse und, und, und. Sie alle liefen oder flogen umher und gaben die typischen Geräusche ihrer echten Vorbilder von sich. Wieder schauten sich die Götter erfreut um.


„Lyssa”, bat die Anführerin weiter. Diese lachte einmal, drehte sich ein paar Mal um ihre Achse, wobei nicht klar wurde, ob sie sich links herum oder rechts herum drehte und ein Chor ihrer Diener wurde in die Halle teleportiert, der sofort begann, mit vollendeten Stimmen ein Lied anzustimmen. Wieder raunten die Götter anerkennend. „Mein Beitrag kommt, wenn wir gespeist und getrunken haben”, antwortete Dwayna, klatschte in die Hände und die Türen der Halle öffneten sich. Die Diener strömten hinein und bewunderten die Halle und die Macht der Götter. Nach und nach würde jedes Reich mit den Tieren, Figuren und Chören besetzt werden, so dass jeder Diener teilhaben konnte an den Festlichkeiten, egal, wo er sich gerade befand.


Die Speisen und Getränke wurden hereingebracht, getragen von den Füchsen und Eulen Kormirs. Es gab einfach alles. Kormirs Diener hatten Rezepte aus allen Teilen der Welt und aus allen Zeiten genutzt, von einfachen Bratäpfeln über Schokofondues bis hin zu Filets, die im Mund zergingen – und alles schmeckte einfach herrlich. Diener und Götter schlemmten sich durch die Speisen, überall wurde gelacht, gesungen und getanzt.


Dann kam die Bescherung. Die Schneemänner Dwaynas kamen in die Halle, große Säcke transportierend, und verteilten an jeden Diener ein Geschenk. Weitere Schneemänner würden durch die Reiche gehen und so jeden Diener erreichen. Auch die Götter wurden beschenkt, aber das taten sie untereinander. Dwayna schenkte Melandru eine fliegende Insel, getragen von einem ihrer Wirbelstürme, hoch über Tyria, auf der sie herumexperimentieren und die Sterblichen beobachten konnte.

Melandru schenkte Grenth eine Minidimension, bestehend aus einer kleinen Südseeinsel mit Palmen, Strand und Meer. „Als kleiner Rückzugsort für dich und zur Abwechslung von deiner Arbeit.”

Grenth überreichte Balthasar einen neuen Helm, da sein alter zerstört worden war. Freudig setzte der Gott des Feuers diesen auf und erkannte, dass seine Augen anfingen zu glühen, sobald er anfing zu grollen, und dass dieses Grollen magisch verstärkt wurde. Den ganzen Abend grollte er also fröhlich vor sich hin und präsentierte stolz seinen neuen Helm.

Balthasar übergab Lyssa einen geschmiedeten Spiegel und erklärte: „Dieser Spiegel ist mit allen bisher gebauten Spiegeln in Tyria verbunden. So kannst du die Sterblichen beobachten, ohne einen Fuß in ihre Welt zu setzen. Ich habe die verbliebene Magie von Kralkatorrik genutzt, um sie zu verbinden. Neue Spiegel werden aber nicht eingebunden, es ist halt nicht mein Spezialgebiet.”

Voller Freude umarmte Lyssa Balthasar: „Oh, Balti, danke für dieses tolle Geschenk! Dieser Spiegel wird mir sehr viel Freude bereiten. Vielen, vielen Dank, mein Lieber.” Balthasar brummte etwas verlegen.

Lyssa schenkte Kormir einen Reif, der dafür sorgte, dass sowohl ihre Gestalt als auch ihre Magie in der Welt der Sterblichen für kurze Zeit vollkommen verschleiert würde.

„Du bist die jüngste von uns und hast immer wieder angedeutet, dass du doch hin und wieder mal deine alte Welt besuchen wolltest. Dies soll es dir nun ermöglichen, ohne erkannt zu werden.”

Und Kormir überreichte Dwayna ein kleines Buch. „Jeden Tag wirst du darin eine neue Geschichte, eine neues Märchen oder ein neues Gedicht lesen können, geschrieben von den Sterblichen über die Jahrhunderte verteilt.”


So beschenkten sich die Götter untereinander und die Diener sich gegenseitig und es wurde weiter gefeiert und gesungen.




Epilog


Irgendwann in der Zukunft.


Gemütlich saß Grenth in einem Liegestuhl unter einer Palme auf seiner kleinen Insel und las gemütlich eine Zeitung. Seine Kleidung hatte er abgelegt und nur eine Badehose an. Hin und wieder nahm er einen Schluck aus einem Cocktailglas und genoss die Ruhe und den Klang des sanften Wellengangs.


Es hieß, dass die Götter der Menschen die Welt der Sterblichen in Ruhe ließen und sich nicht mehr in ihre Belange einmischten. Wiederum andere Gerüchte behaupteten das Gegenteil. Immer wieder konnte man Menschen flüstern hören, die schworen, ein Gesicht so schön wie tausend Sterne in einem Spiegel erblickt zu haben. Nur kurz, für einen winzigen Augenblick. Oder sie fühlten sich beobachtet, keine bedrohliche Beobachtung, sondern eine neugierige, doch sahen sie nie jemanden, nur hin und wieder die Ahnung einer Bewegung in einem Spiegel.


Ohne Hektik schlenderte eine Frau mittleren Alters durch den Markt in der Stadt Amnoon und beobachtete die Menschen um sich herum bei ihrem alltäglichen Treiben. Sie hatte kein besonderes Gesicht, keine markanten Merkmale und keiner schenkte ihr große Beachtung. Mal wurde sie angerempelt und verflucht, mal freundlich behandelt. Und als sie den Markt verließ, war sie nur eine von vielen Frauen, die wieder nach Hause ging.


An manchen Tagen, wenn die Sonne schien und der Himmel strahlend blau war, konnte der ein oder andere Mensch einen kleinen und sehr schwachen Schatten über den Boden wandern sehen. Blickten sie hinauf, so hatten sie die Möglichkeit, einen winzigen Punkt zu sehen, der weit oben vor der Sonne schwebte. Jeder nahm an, dass dies die Überbleibsel einer Wolke waren, und kümmerte sich nicht weiter darum. Nur ein paar Vögel hätten davon singen können, dass dies keineswegs eine Wolke war sondern eine riesige schwebende Insel.


„Der Drache mag meinen Körper kristallisiert haben“, sprach seine gebrandmarkte Geliebte, „doch Ihr, Hubert … Ihr habt mein Herz kristallisiert.“

„Wartet, ist das etwas Gutes?“, fragte Hubert. Statt eine Antwort zu geben, lehnte sie sich herüber. In einem langen, leidenschaftlichen und überraschend zärtlichen Kuss trafen zwei sture Köpfe auf nachgiebige Körper und Hubert wurde klar, dass er vielleicht, ganz vielleicht, wieder lieben könnte.

Belustigt klappte Dwayna das Buch zu. Die heutige Geschichte stammte aus der Feder eines Charrs namens Snargle Goldklaue.

‚Interessant‘, dachte sie. ‚Es kann nicht jeder Charr ein Krieger sein. Es ist durchaus aufschlussreich zu wissen, wie Charr zu Themen wie Liebe und Romantik stehen, auch wenn sie noch ein wenig unbeholfen in ihrer Wortwahl sind.‘