Kapitel 1: Eine festliche Ankündigung
Jahr 1333 n. E., Tag 3, Jahreszeit des Zephyrs
Das Reich Lyssas. Große, weite Räume, gesäumt von Spiegeln in allen Größen und Seen aus kristallklarem Wasser. Die Wände und Böden in violetten Tönen gehalten. In einem dieser Räume stand ein Bett, groß, bedeckt mit unzähligen Kissen und Decken. Und darin lag eine Frau, gedankenverloren nach oben starrend auf einen Spiegel, der einen Einblick in den Himmel von Tyria gewährte. Wolken zogen langsam vorbei, beleuchtet von einer Sonne in einem dunklen Orange.
Ein paar Minuten lang sah die Frau den Wolken zu, dann stand sie auf und formte mit Magie ein eng anliegendes Kleid aus Seide – schlicht, aber elegant und mit grazilen Mustern versehen. Dann ging sie aus dem Raum zu anderen Spiegeln und betrachtete sie. Lyssa beobachtete, was in ihrem Reich geschah. In einem Spiegel sah sie ein paar ihrer Diener, die sich um Spiegel kümmerten, diese entstaubten oder reparierten. Andere Diener fingen Magie ein, die überall in ihrem Reich wie Schwaden umherflogen, und brachten sie zu den Arbeitsstationen, wo wiederum andere Diener diese Magie in Inspiration, Kreativität und Illusionen verwandelten.
Lyssa würde diese dann in die Herzen der Sterblichen bringen, denn die Götter kümmerten sich noch immer um die Welt Tyria, auch wenn sie entschieden hatten, nicht mehr aktiv in das Geschehen einzugreifen. Die Verantwortung für Tyrias Schicksal blieb und so wachten sie weiter über die Sterblichen, wenn auch aus dem Verborgenen heraus. Doch diese Aufgabe würde sie später wahrnehmen. Jetzt wandte sie sich ab, ging durch mehrere Spiegel, die als Portale in andere Teile ihres Reiches dienten, und verließ ihre Dimension in eine andere, welche die Götter der Menschen gemeinsam nutzten.
Diese Domäne war einer großen Villa nachempfunden. Lyssa betrat einen Raum, in dessen Zentrum ein großer Tisch stand, umgeben von gepolsterten Stühlen. Aus mehreren Fenstern schien eine magische Sonne in den Raum. Lyssa war nicht die erste im Raum, Grenth saß schon am Tisch und blätterte in einer Zeitung. Die Göttin der Schönheit und Illusionen beschwor etwas Gebäck herauf, knabberte daran, setzte sich und streckte ihre Beine aus. An Grenth gewandt fragte sie dann: „Steht etwas Interessantes drin?”
Dieser blätterte die Zeitung um und antwortete: „Nur die Todesanzeigen aller Menschenreiche.”
Lyssa rollte kurz die Augen und schüttelte den Kopf: „Selbst hier arbeitest du noch, entspanne dich doch ein wenig.”
„Ich bin nun einmal gerne vorbereitet, das erleichtert meine Arbeit ein wenig”, erwiderte der Gott des Eises und des Todes.
Kurz darauf kam Dwayna in den Raum und brachte einen Schwall frischer Luft mit sich.
„Ah, Lys, Grenth, schön, dass ihr schon hier seid. Ich habe nach euch und den anderen Göttern schicken lassen, da ich euch etwas mitzuteilen habe.”
„Etwas Ernstes?”, fragte Grenth.
„Nein, nein, nichts Schlimmes, Grenth, aber ich will warten, bis alle hier sind, um nicht alles zweimal sagen zu müssen”, winkte Dwayna ab. Dann ließ sie sich ebenfalls auf einen Stuhl nieder.
Ein paar Minuten später tauchten Melandru und Kormir auf, Balthasar kam als letzter in den Raum und setzte sich auf den letzten Stuhl.
„Also, weswegen hast du uns rufen lassen?”, grollte er.
Dwayna erhob sich und sagte dann: „Kormir teilte mir vor Kurzem mit, dass sich unser Wintertag wieder nähert. Es bleibt noch ein Jahr, dann sollen unsere Reiche wieder unter den Feierlichkeiten dieses Festes erstrahlen.”
„Nur noch ein Jahr? Aber den letzten Wintertag hatten wir doch erst vor Kurzem”, meinte Melandru überrascht.
„Vor 49 Jahren, Mel”, antwortete Kormir.
„Kaum zu glauben, dass die Zeit so schnell vorangeschritten ist”, schüttelte Grenth den Kopf.
„Die Zeit bleibt auch hier in den Nebeln nicht stehen”, antwortete die Göttin der Wahrheit und der Ordnung.
„Oh, ich freue mich schon so auf das Fest”, klatschte Lyssa erregt in die Hände, „es ist immer so schön, die Tänze, die Musik und die freudigen Gesichter.”
„Und damit es auch dieses Mal wieder so ein schönes Fest wird, bitte ich euch alle darum, etwas Schönes vorzubereiten”, meinte Dwayna in die Runde. „Das war dann auch schon alles, was ich euch sagen wollte.”
Die Göttern erhoben sich wieder und kehrten in ihre Reiche zurück mit den Gedanken an den kommenden Wintertag.