Adventskalender 2022

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Kapitel 1: Ankunft in Götterfels

Das Banner des krytanischen Königshauses flatterte unruhig im Wind und verdeckte hin und wieder die strahlende Sonne, die hoch am Himmel stand. Mit ruhigem Blick betrachtete Sai den Bug des Luftschiffes, der sich langsam nach vorne neigte und nach und nach den Blick auf herrliche grüne Wiesen und Felder freigab. In der Ferne blitzten die Türme einer imposanten Großstadt auf, auf die das kaiserliche Luftschiff zusteuerte. „Fast zu Hause …“, murmelte jemand hinter Sai auf einmal und die Canthanerin warf einen Seitenblick auf Kasmeer Meade, die mit sehnsüchtigem Blick auf den Horizont starrte. Mit einem flüchtigen Lächeln wandte Sai ihre Augen wieder der immer näher kommenden Hauptstadt der Menschen Tyrias zu und sie spürte, wie die Aufregung in ihr wuchs. ‚Ruhig bleiben, Sai, du bist hier nicht zum Vergnügen. Die Arbeit geht vor‘, mahnte sie sich selbst und verstärkte den Griff um den Haft ihres Streitkolbens. Hinter sich konnte sie die Stimmen von Detektiv Rama und Ministerin Min hören, die sich mit den kaiserlichen Wachen über den Ablauf der Landung unterhielten. „Sobald wir angelegt haben, möchte ich, dass alle Augen und Ohren auf die Kaiserin und ihre Umgebung gerichtet sind. Ich weiß, es ist Neuland und es gibt viel Spannendes zu sehen, aber der Schutz Ihrer Hoheit hat immer noch oberste Priorität“, erklärte Cho Min und Rama nickte bestätigend. Viel mehr bekam Sai nicht mit, denn das Luftschiff hatte zum Landemanöver angesetzt und ließ sich elegant an der Stadtmauer nieder. Sofort nachdem die Schiffsleiter ausgefahren war, setzten sich Ministerin Min und ihre Wachen in Bewegung, um ein Spalier für Kaiserin Ihn zu bilden, die nun auf dem Deck erschien. Kasmeer verbeugte sich und verkündete mit sichtlich nervöser Miene: „Willkommen in Götterfels, Majestät.“ Die Kaiserin Canthas neigte den Kopf und schritt dann anmutig die Treppe des Schiffes hinunter auf die steinerne Terrasse, auf der sich schon eine Menge Krytaner angesammelt hatten. Ganz vorne stand eine Reihe in weiß-silberner Rüstung gekleideter Soldaten und eine wichtig aussehende Frau mit langem roten Haar und strengem Blick. Sai folgte ihrer Kaiserin auf Schritt und Tritt bis hin zu der mysteriösen Frau, die sich tief verbeugte und dann sprach: „Kaiserin Ihn, es ist eine Ehre, Euch in Kryta begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Gräfin Anise, ich bin die rechte Hand Ihrer königlichen Majestät Königin Jennah und während Eures Aufenthaltes Eure erste Ansprechpartnerin. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet …“ Anise machte eine Handbewegung in Richtung eines von Soldaten umringten Steinpfads, über den sich die Gruppe nun auf den Weg zum Palast machte.

Kapitel 2: Götterfels

Götterfels war Neu-Kaineng in vielen Dingen gar nicht unähnlich, das hatte Sai sehr schnell festgestellt. In jeder Ecke der Großstadt herrschte ein buntes Treiben, Händler und Tagelöhner gingen ihrem Handwerk nach und verschiedene Bürger aller Völker bewegten sich geschäftig durch die Straßen. Mit wachsamem Blick behielt Sai die Umgebung im Auge, auf der Suche nach potentiellen Gefahrenquellen für ihre Kaiserin. Schließlich war sie nicht umsonst Teil der kaiserlichen Leibwache. Auch Detektiv Rama ließ seinen Blick etwas umherwandern und es sah so aus, als ob er sich alle Mühe gab, nicht allzu beeindruckt auszusehen. ‚Dieser Mann muss lernen, sich auch einmal zu entspannen‘, sagte Sai zu sich selbst und schüttelte unmerklich den Kopf. Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch schnell von Rama losgerissen, da die Gruppe einen riesigen Garten betrat, der sich im Inneren der Stadt verbarg. Ein großes Ornament verschiedener Planeten und Sterne hing an der Decke der Glaskuppel und zauberte wunderschöne Spiegelungen auf den Marmorboden unter sich. „Wow“, hauchte Min und betrachtete mit glänzenden Augen das Lichtspiel. Kasmeer blieb vor einer mächtigen Doppeltür stehen, die sich nun langsam für die ankommenden Gäste öffnete und den Blick auf einen edel eingerichteten Thronsaal freigab. Dort in der Mitte saß eine in königliche Gewänder gekleidete Frau auf dem Thron und lächelte der Versammlung entgegen. Sowohl Rama als auch Min und Sai verbeugten sich vor der Königin Krytas, die mit melodischer Stimme anfing zu sprechen: „Herzlich willkommen in Götterfels, Eure Majestät. Ich hoffe, die Reise war angenehm.“ Kaiserin Ihn neigte dankend den Kopf und erwiderte: „Vielen Dank für den stattlichen Empfang, Königin Jennah. Mein Gefolge und ich sind sehr erfreut, so herzlich begrüßt worden zu sein.“ Sie machte eine schweifende Handbewegung zu ihrer Gefolgschaft und fuhr fort: „Dies sind Ministerin Cho Min und Detektiv Rama, die ich als Botschafter mit nach Kryta genommen habe. Ich würde sie gerne Eurer Botschafterin Meade zur Seite stellen, um sich mit Tyria vertraut zu machen, während ich in Götterfels residiere.“ Königin Jennah schien von dieser Idee milde erfreut zu sein und sah hinüber zu Kasmeer. „Ich bin sicher, Botschafterin Meade wird diese Aufgabe mit Freude annehmen. Erlaubt mir, Eurer Ministerin noch einen persönlichen Begleitschutz an die Seite zu geben. Anise, bitte informiere Hauptmann Castarmore über ihren neuen Auftrag.“ „Vielen Dank, Jennah. Das ist sehr großzügig, wenngleich ich schon eigene Soldaten für diesen Auftrag mitgebracht habe“, antwortete die Kaiserin und nickte Sai zu, die sich ohne Umschweife an Mins Seite stellte und gehorsam den Kopf neigte. Jennah lächelte zufrieden. „Nun, etwas zusätzlicher Begleitschutz kann nicht schaden. Kasmeer, wenn Ihr so freundlich wärt, die Ministerin nach draußen zu geleiten.“ Kasmeer verneigte sich noch einmal vor ihrer Königin, dann bedeutete sie Min und den anderen, ihr aus dem Thronsaal zu folgen.

Kapitel 3: Geschichtsstunde

Die Mittagssonne brannte hell auf die gepflasterte Hauptstraße von Götterfels, auf der Sai zusammen mit Kasmeer und den anderen in einem gemütlichen Tempo dahinschlenderte. „Der Hauptmann sollte im Ossa-Viertel zu uns stoßen. Sie ist eine vielbeschäftigte Frau, müsst Ihr wissen.“ Cho Min betrachtete interessiert die kleinen Marktstände, während Rama sich eher für die Bauweise der Stadt zu interessieren schien. „Fürstin Meade, wenn Ihr mir gestattet … Eure Stadt scheint nicht recht einem bestimmten kulturellen Baustil zu folgen. Oder täusche ich mich?“ Kasmeers Lippen umspielte ein sanftes Lächeln, sie schien die Frage zu amüsieren. „Keineswegs, Ihr liegt richtig. Jeder Winkel dieser Stadt hat seine Besonderheiten. Ich möchte Euch nicht allzu sehr mit Geschichte langweilen, aber kurz gesagt: Götterfels war nach dem ersten Fall Löwensteins ein Zufluchtsort für Menschen aus ganz Tyria. Da jeder seine eigene Kultur mitbrachte, kam es zur Entwicklung der verschiedenen Viertel. Wir haben alles: vom elonischen Baustil bis zu alt-ascalonischen Verzierungen. Das ist jede Menge alte Geschichte, die in diesen Mauern steckt.“ Rama nickte interessiert und erwiderte: „Verstehe.“ Sais Aufmerksamkeit riss sich von Kasmeer los, da sich Ministerin Min ein Stück von der Gruppe entfernt hatte und staunend den Kopf in den Nacken legte. Jetzt blieb auch der Rest der Gruppe stehen und Sai erkannte sofort, was Cho so in den Bann gezogen hatte: Vor ihnen erstreckte sich ein großer Garten mit allerhand Statuen und Gewächsen, die einen riesigen gläsernen Pavillon umrundeten. Der Pavillon war in Form eines riesigen Falken gebaut, der seine gläsernen Flügel schützend über den Platz hielt. „Nicht schlecht“, murmelte Sai anerkennend, wurde jedoch prompt von hinten angestoßen. Mit einer Hand an ihrem Streitkolben wirbelte sie herum, nur um in das verschreckte Gesicht eines Bürgers zu schauen. Der kleine Mann balancierte einen Stapel Holzbretter auf seiner Schulter und stammelte: „Verzeiht, das war keine Absicht. Ich … ich müsste nur …“ Cho kam mit einem Lächeln auf den Mann zu und legte Sai beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Schon gut, Shao Kan. Bitte, lasst Euch von uns nicht aufhalten, werter Herr.“ Der kleine Mann eilte die Treppen hinunter und jetzt fiel Sai auch erst auf, dass geschäftige Bauarbeiten auf dem Platz im Gange waren. Zu Kasmeer gewandt fragte sie: „Was entsteht hier?“ Kasmeer sah hinüber zu ein paar Tannenbäumen und erwiderte: „Sie breiten das große Wintertagsfest vor. Dieses Jahr muss der Kronpavillon besonders strahlen, wo wir doch so wichtige Gäste in der Stadt haben.“ Mit neugierigem Blick verfolgten die Canthaner die Aufbauarbeiten, bis Kasmeer sie weiter winkte. „Lasst uns weitergehen, das Ossa-Viertel ist nicht mehr weit!“

Kapitel 4: Der Hauptmann

Sai kannte Elona bisher nur aus Bildern und Geschichten, doch das Ossa-Viertel vermittelte ihr sofort den südlichen und exotischen Eindruck, den sie sich immer vorgestellt hatte. Zwischen den blau-weißen Häusern ragten grüne Palmen aus dem Boden und die Luft roch süßlicher als in den anderen Vierteln. Trotz der winterlichen Jahreszeit strahlte das Viertel die Wärme des fernen Südens aus, was Sai tatsächlich etwas von der Kälte Tyrias ablenkte. Weiter vorne, auf einem offenen Platz, stand eine Gruppe Seraphen zusammen und lauschte einer Frau, die offenbar ihr Truppführer war. Als die junge Seraphin Kasmeer erblickte, entließ sie ihre Leute mit einem Handzeichen und kam geradewegs auf die Canthaner zugeschritten. Mit einer leichten Verbeugung kündigte sie an: „Fürstin Meade, schön, Euch wiederzusehen.“ Kasmeer neigte den Kopf und erklärte: „Ministerin, Rama, dies ist Hauptmann Blaire Castarmore. Sie wird uns auf unserem weiteren Weg durch Kryta begleiten.“ Der Hauptmann verneigte sich erneut und setzte hinzu: „Entschuldigt mein spätes Erscheinen. Wir hatten … eine kleine Auseinandersetzung mit einer lokalen kriminellen Bande, die meine Aufmerksamkeit den ganzen Morgen in Anspruch nahm. Jetzt jedoch stehe ich ganz zu Euren Diensten.“ Rama erwiderte: „Vielen Dank, dass Ihr euch Zeit für uns nehmt, Hauptmann. Wir wissen das sehr zu schätzen. Wie sieht der Plan für den restlichen Tag aus?“ „Fürstin Kasmeer und ich werden Euch durch alle Hauptstädte Tyrias inklusive Löwenstein führen. So habt Ihr die Chance, von jeder Kultur etwas zu sehen.“ „Hervorragend.“ „Nun, es wird auch schon Zeit, unsere Tour in der nächsten Stadt fortzuführen. Das Asura-Portal im königlichen Garten bringt uns auf direktem Wege nach Löwenstein. Ich habe uns bereits eine kleine Führung gebucht. Eine gute Freundin von mir wird uns die besten Winkel der Stadt zeigen“, erklärte Blaire und schritt voran in Richtung Oberstadt. Sie liefen vorbei an dem Ministerforum und dem Bankenviertel zurück zu dem prächtigen Garten, aus dem sie gestartet waren. Chos Augen glänzten gespannt und sie meinte zu Kasmeer: „Oh, das ist wirklich aufregend. Ich habe noch nie ein Asura-Portal benutzt.“ „Keine Sorge, Ministerin, es ist nicht viel anders, als Eure Jade-Aufzüge in Cantha zu benutzen“, beruhigte die Fürstin sie und deutete auf das lilafarbene Portal, das ein leises Summen von sich gab. „Nach Euch“, sagte Kasmeer und die Canthaner traten in den violetten Schein des Portals.

Kapitel 5: Löwenstein

Auf dem Coriolis-Platz von Löwenstein war zu dieser Tageszeit reger Verkehr zu beobachten. Deshalb schenkte man der kleinen Gruppe, die aus einem der sieben Asura-Portale trat, auch keine große Beachtung. Hauptmann Castarmore sah sich direkt prüfend um, bevor sie sich zu den anderen drehte. „Willkommen in Löwenstein, der Handelshauptstadt von Kryta! Diese Stadt schläft niemals, wie wir so schön sagen.“ Sai hörte dem Hauptmann nur mit einem halben Ohr zu, viel zu sehr war sie abgelenkt von den vielen unterschiedlichen Gestalten, die aus den Portalen ein- und ausgingen. „Wirklich beeindruckend! Die Kaiserin wäre entzückt, wenn sie das sehen könnte“, meinte Cho und drehte sich zu einer Gruppe Reisender um, die in seltsamen Roben gekleidet waren. Blaire schien jemanden entdeckt zu haben und winkte in die Menge. Aus dem Gewusel kam eine große Frau in beeindruckender Rüstung auf sie zu und lachte die Gruppe fröhlich an. „Blaire! Bei den Geistern, tut es gut, dich wiederzusehen.“ „Wie gut, dass du kommen konntest, Hraylla. – Darf ich vorstellen, dies ist Hraylla Vikardottir, eine Gesandte der Wachsamen. Sie ist seit Jahren in Löwenstein stationiert und kennt die Stadt besser als jeder andere. – Hraylla, Fürstin Kasmeer in Begleitung von Ministerin Min und Detektiv Rama aus Seitung.“ Die Norn nickte freundlich und verschränkte die Arme. „Herzlich willkommen in Tyria. Ich möchte gar keine langen Reden schwingen, denn Löwenstein muss man mit den eigenen Augen erleben. Hier entlang bitte!“ Während Blaire und Hraylla sich ausgelassen unterhielten, meinte Sai zu Rama: „Was meint Ihr – ob sie hier wohl besseren Fisch haben als in Seitung?“ Rama schnaubte belustigt und raunte zurück: „Ich verwette meinen nächsten Sold darauf, dass kein Fischgericht hier an unser Sushi herankommt.“ Sai musste grinsen und antwortete: „Wette angenommen.“ Die Truppe schritt unter einem Torbogen hindurch auf einen riesigen Platz, der unverkennbar den Mittelpunkt Löwensteins darstellte. „Vor Euch seht Ihr den Platz der Mystik mit direktem Anschluss zum Löwenhof. Dies ist das Herzstück unseres Handelszentrums, das Tag und Nacht gut besucht ist. Hier findet man alles, was das Herz begehrt, und noch viel mehr.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen begutachtete Sai das Bankgebäude, das in der Form eines Kraken gebaut sein zu schien. Allgemein erinnerte die Stadt sehr an das Meer, mit seinen azurblauen Kuppeln und sandweißen Fassaden. Rama konnte seinen Blick nicht von muschelförmigen Handelsposten lösen, während Cho Min eine Art leuchtenden Brunnen entdeckt hatte und Hraylla darauf hinwies. „Was … ist das?“ „Oh, das nennen wir ‚die Mystische Schmiede‘. Sie gehört Herrn Zommoros und funktioniert wie … nun ja, wie eine magische Waffenschmiede eben.“ Cho betrachtete das sprudelnde Weiß fragend und Rama flüsterte Sai zu: „Jetzt habe ich alles gesehen.“ Sai nickte bestätigend und warf einen letzten fragwürdigen Blick auf die „Schmiede“, beeilte sich dann aber, wieder zur Gruppe aufzuschließen.

Kapitel 6: Ein Besuch beim Kapitän

Die Tour durch Löwenstein führte weiter am Handelsposten vorbei, hinein ins Kommodore-Viertel. Ein verschlungener Pfad führte durch das Labyrinth der kleinen Gässchen, und auch hier hatte sich die Wintertags-Stimmung schon verbreitet. An jeder Ecke waren kleine geschmückte Bäume und Ornamente zu sehen, so wie in Götterfels auch. Wintertag schien tatsächlich ein kulturübergreifender Feiertag zu sein, wenn nicht nur die Hauptstadt der Menschen geschmückt wurde. Neugierig versuchte Sai, einen Blick hinter jede offene Tür zu bekommen, während Hraylla die einzelnen Gebäude benannte. „… und hier haben wir das Konsortium, eines der wichtigsten Gebäude in Löwenstein. Natürlich nicht so wichtig wie die Schreibstube des Kapitäns hier, aber dennoch ein Anziehungspunkt für Interessierte von nah und fern. Ah, und dort befindet sich eine der beliebtesten Schänken der Stadt. Ogden Steinheiler ist hier des Öfteren anzutreffen. Aber genug davon. Lasst uns lieber Kapitän Kiel einen Besuch abstatten!“ Hraylla blieb vor einem kleinen, aber edel aussehenden Häuschen stehen und klopfte an die Tür. Von innen ertönte ein gedämpftes „Herein!“, und die Norn öffnete langsam die Tür. Eine streng aussehende Frau mit kurzen Haaren und eleganter Uniform sah der Gruppe entgegen und erkannte Hraylla, denn sie erhob sich sogleich und kam hinter ihrem mächtigen Schreibtisch hervor. „Ah, Vikardottir, welch eine Überraschung. Ihr habt da wichtige Gesellschaft bei Euch, wie ich sehe.“ „Kapitän Kiel, ich hoffe, wir stören nicht bei der Arbeit. Ich führe gerade die canthanische Botschafterin samt Gefolge durch Löwenstein und wollte Euch miteinander bekannt machen, wo der Handel doch zu florieren beginnt. – Ministerin Min, dies ist Ratsmitglied Kapitän Ellen Kiel. Sie leitet viele Vorgänge in Löwenstein und ist für diese Stadt unverzichtbar.“ Kiel verzog die Lippen zu einem kleinen Lächeln. „Ihr schmeichelt mir zu sehr, meine Liebe. – Nun, Ministerin, ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen und heiße Euch und Eure Mitreisenden herzlich willkommen. Bei Fragen oder Wünschen stehe ich Euch natürlich jederzeit zur Verfügung“, beendete das Ratsmitglied ihre Ansprache und verneigte leicht den Kopf. „Wir fühlen uns sehr willkommen. Vielen Dank, Kapitän“, erwiderte Cho dankbar und fügte hinzu: „Eure Stadt ist wirklich atemberaubend.“ Ellen Kiel sah hinüber zu Hraylla. „Ich bin sicher, Vikardottir hier hat Euch die besten Seiten bereits gezeigt. Ich empfehle bei einem Stadtrundgang immer einen Zwischenstopp beim Moran-Denkmal, von dort hat man so eine schöne Sicht auf den Hafen.“ Hraylla nickte und meinte im Hinausgehen mit einem anerkennenden Nicken: „Vielen Dank für den Tipp, Ratsmitglied. Wir lassen Euch jetzt wieder in Ruhe.“

Kapitel 7: Trubel im Hafen

Nachdem die Gruppe den Westlichen Bezirk hinter sich gelassen hatte, führte sie der Stadtrundgang geradewegs zum Sanctum-Hafen. Hraylla befolgte den Tipp des Kapitäns und so standen sie nun am Moran-Denkmal und genossen die wunderbare Aussicht auf das offene Meer. Zu ihrer Linken befand sich das imposante Hafengebäude Löwensteins, das Handelsschiffe aus aller Welt empfing, so auch die aus Cantha. Zwischen den Fässern und Dockarbeitern konnte Sai kleine, rattenartige Gestalten entdecken, die zwischen den Ladungen umher huschten. „Ohne unhöflich klingen zu wollen, was sind das für Wesen?“, fragte sie und Hraylla verdrehte beim Anblick der seltsamen Tiere die Augen. „Oh, das sind Skritt. Mehr oder weniger schlaue Wesen, deren Intelligenz zunimmt, sobald sich ihre Anzahl vergrößert.“ Sai konnte sowohl auf Mins als auch auf Ramas Gesicht sehen, dass sie der Wachsamen diese Geschichte nicht ganz abkaufen wollten. Hraylla musste lachen und fügte hinzu: „Ich gebe zu, es klingt recht wunderlich, aber ich spreche die Wahrheit. Furchtbar nervig, die Viecher.“ Einer der Skritt hatte die drei Augenpaare, die ihn anstarren, bemerkt und verkroch sich schnell zwischen zwei Kisten. Sais Blick wanderte wieder auf den Horizont zu, und sie fragte sich, wie sie all die Zeit in Unwissenheit über die blühende Kultur Tyrias und all die Wunder, die es hier zu sehen gab, hatte leben können. Am anderen Ufer des Hafens erstreckten sich weitere Viertel der Stadt in die Höhe, ebenso wie ein strahlend weißer Leuchtturm und das Dock der Luftschiffe. Blaire schien ihren interessierten Blick bemerkt zu haben und sagte: „Was Ihr dort seht, sind Fort Marriner und der Küstenferne Bezirk sowie der Blutküste-Bezirk. Dort befinden sich Portale in die verschiedensten Winkel der Nebel, das Hauptquartier der Gilden-Initiative, die beliebten Deverol-Gärten und viele weitere Sehenswürdigkeiten. Ich fürchte allerdings, uns fehlt die Zeit, die anderen Winkel der Stadt auch noch zu erkunden. Wir werden bereits woanders erwartet. – Hraylla, warum begleitet Ihr uns nicht auf unserer Tour?“ Die Wachsame überlegte kurz, zuckte dann mit den Schultern und meinte: „Es spricht nichts dagegen, ich habe im Moment alle Zeit der Welt.“ „Großartig! Dann lasst uns weiterziehen“, rief Blaire und führte die Gruppe zurück zu den Asura-Portalen.

Kapitel 8: Die Schwarze Zitadelle

Das Summen des Asura-Portals schwoll an, was das Signal gab, dass man gleich sein Ziel erreicht hatte. Sobald Sai aus dem Portal getreten war, blieb sie wie angewurzelt stehen. Vor ihr erstreckte sich eine Landschaft aus Stahl und Metall, so weit das Auge reichte. Was Sai aber so den Atem verschlagen hatte, war die riesige mehrschichtige Halbkugel, die unweit des Portals thronte. Hraylla machte eine weitläufige Handbewegung über den Platz und rief: „Willkommen in der Schwarzen Zitadelle, Heimat der vier Legionen der Charr!“ Mit großen Augen stolperten die Canthaner die stählerne Brücke entlang auf das kugelförmige Gebäude zu. Sai gab sich alle Mühe, nicht allzu eingeschüchtert dreinzuschauen, aber das war bei solch einem Kulturschock ziemlich schwer. Kasmeer hatte die Überforderung ihrer Gäste bemerkt und meinte sanft: „Lasst es ruhig erst mal auf Euch wirken. Ich weiß noch, wie ich diese Stadt zum ersten Mal betreten habe. Ich war ähnlich überwältigt – und dabei bin ich gebürtige Krytanerin.“ Es brauchte tatsächlich einige Herzschläge, bis Ministerin Min dann schließlich anfing: „So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich will alles wissen, lasst keine Details aus.“ Kasmeer lächelte und begann mit einer ausführlichen Erklärung über die Charr und ihre Lebensweise. „Bei jedem Volk ist das Regierungs- oder Führungssystem anders. Bei den Charr zum Beispiel ist das Oberhaupt der ‚Khan-Ur‘. Unter ihm dienen die vier Imperatoren der Legionen, danach folgen Tribune, Zenturios, Legionäre, bis hin zu einfachen Soldaten und Gladia. Das System ist natürlich weitaus komplizierter als das, aber für genauere Details fragt Ihr am besten Pakt-Kommandeur Glutfeuer, er ist da besser informiert. Schließlich ist es seine Heimat!“, gab Kasmeer hinzu und bedeutete der Gruppe, ihr zu folgen. Der Weg führte sie vorbei an sechs riesigen Metall-Statuen hinunter zum Handelsbezirk der Stadt, weiter vorbei an dem Bereich der Handwerker bis hin zum Heldenbezirk, wie ein Straßenschild sie informierte. Charr in verschiedenen Rüstungen saßen beieinander, trainierten zusammen oder lieferten sich einen Trinkwettbewerb. Detektiv Rama legte den Kopf schief und fragte: „Ich sehe gar keine Trennung zwischen den Legionen. Sind sie denn nicht rivalisiert?“ „Oh, nein. Blut, Eisen und Asche sind schon ewig eine Allianz und seit Neuestem wird auch Flamme wieder in der Zitadelle begrüßt. Ihr müsst wissen, vor dem Sieg über Jormag und Primordus war die Flammen-Legion ein Feind der Zitadelle, doch nun sind tatsächlich alle vier Legionen unter einem Dach vereint.“ Interessiert nickte Sai und belächelte eine Gruppe jüngerer Charr, die zwischen den Trainingspuppen Fangen spielte. Hraylla deutete hinauf zu einem höher gelegenen Gebäude und erklärte: „Dort oben ist das Fahrar-Lager der Jungen, deshalb laufen so viele von den kleinen Rackern hier herum.“ „Fahrar?“ „Oh, verzeiht. Die Jungen der Charr werden dort aufgezogen und trainiert; es funktioniert ähnlich wie eine Schule.“ Da schaltete sich Blaire ein mit den Worten: „Lasst uns weitergehen, es gibt noch viel zu entdecken.“ Gehorsam folgte der Trupp dem Hauptmann aus dem Viertel.

Kapitel 9: Achtung heiß!

„Hier entlang!“ Sai folgte der Stimme des Hauptmanns, was angesichts des Lautstärkepegels dieser Stadt gar nicht so einfach war. Vor ihnen erstreckte sich ein Plateau vollgepackt mit riesigen Kriegsmaschinen, Panzern und allerlei anderen schwer gepanzerten Maschinen. Ganze Gruppen von Charr hämmerten und bohrten fleißig an ihnen herum, tauschten Maschinenteile aus und ölten die Ketten. Sai meinte zu Rama gewandt: „Eines muss man den Charr lassen, sie können wirklich mit Eisen umgehen.“ „Die Trupps, die Ihr da gerade beobachtet, heißen ja nicht umsonst die Eisen-Legion!“, rief Hraylla ihnen zu und grinste. Min nickte verstehend und wollte wissen: „Also hat jede Legion ihre eigene Profession?“ „Nun, zumindest ist das der Grundgedanke. Blut, das sind die Frontkämpfer und Schläger unter den Charr. Dann hätten wir da noch Asche, die Spione in den Schatten; Flamme, die Feuerschamanen, und eben Eisen, die Handwerker und Besitzer der Zitadelle“, zählte die Norn auf und runzelte die Stirn. „Aber natürlich gibt es in jeder Legion talentierte Kämpfer und Schmiede. Ganz so eng wird das also nicht gesehen.“ Aufmerksam verfolgte Sai, wie zwei Techniker ein wie neu glänzendes Zahnrad in einen der großen Panzer einbauten. Da sie selber gerne tüftelte, hätte sie zu gerne längere Zeit an diesem Ort verbracht, jedoch zog ihre Aufsichtspflicht sie weiter mit Cho und den anderen mit. Blaire führte sie in den Süden der Stadt, der hauptsächlich von Industrie und Lagern geprägt war. Sai fiel auf, dass es schlagartig wärmer wurde, trotz der winterlichen Temperaturen, die sie in Tyria empfangen hatten. Die Gruppe hatte sich einer hohen Wand aus Metall und Schrott genähert, hinter der ein rötlicher Schein in den Himmel strahlte. Hraylla drehte sich zu den Canthanern um und meinte augenzwinkernd: „Achtung, jetzt wird Euch unter Umständen gleich etwas heiß.“ „‚Heiß‘?“, murmelte Rama Sai fragend zu, doch noch bevor die junge Frau etwas antworten konnte, tat sich vor ihr auch schon der Grund für die anschwellende Wärme auf: Die Hitze stammte von einem gigantischen Lavabecken, dass rot leuchtend hin und wieder zischende Geräusche von sich gab. Mit offenem Mund sah Sai zu dem Feuerspektakel hinunter und beobachtete, wie ein Kran mehr und mehr Metall in das Lavaloch fallen ließ. Hraylla lehnte sich an die Brüstung der Plattform und sah hinunter. „Ihr seht hier den großen imperialen Schmelzofen, der ganze Stolz der Eisen-Legion. Bei der Menge an Metall, das die Charr verbrauchen, benötigt man eben auch eine große Schmelze.“ Rama lockerte seinen Schal ein wenig und deutete auf eine Gruppe von Arbeitern, die sich gefährlich nahe am Lavabecken aufhielten. „Ist das nicht … ein wenig nah am Feuer?“ „Charr haben es nicht so mit Sicherheitsvorkehrungen, fürchte ich“, erklärte Hraylla und Sai musste schmunzeln, als sie Ramas unzufriedenes Gesicht sah. Der Detektiv war bekannt für seine strenge Gesetzestreue und seine hervorragende Arbeit für das Sicherheitsministerium, da stach ihm so etwas natürlich gleich ins Auge. Blaire zog ihre Handschuhe wieder an und sagte: „Nachdem wir uns jetzt alle wieder etwas aufgewärmt haben, kann die Tour ja weitergehen.“

Kapitel 10: Seltsame Bräuche

„Als nächstes habe ich einen kleinen Ausflug in den ‚Fluch‘, die Arena der Zitadelle, geplant. Vielleicht erwischen wir sogar einen der Gladiakämpfe“, verkündete Blaire und richtete die Schnallen an ihrer Rüstung. „Gladia?“, wollte Min wissen und wich einem Charr-Jungen aus, das an ihr vorbeistürmte. Der Hauptmann deutete mit einem Kopfnicken zu einem Aufzug, der zu den unteren Ebenen führte. „Ein Gladium ist ein Charr ohne Trupp. Sie haben den niedrigsten Rang und leben im Gladiumquartier dort unten. Manchmal liefern sie sich Kämpfe im ‚Fluch‘, um ihre alte Ehrbarkeit wiederzuerlangen.“ Cho zog ihre Augenbrauen zusammen und grübelte: „Das klingt nach einem furchtbaren Schicksal.“ „Angenehm haben es Gladia gewiss nicht. Aber Slum-Bewohner gibt es in jeder Stadt, habe ich Recht?“, Min nickte langsam und Sai musste nur an die Hinterhöfe und stillen Gässchen von Neu-Kaineng denken, um zu realisieren, dass die Norn Recht hatte. Die Gruppe ging weiter über ein paar Brücken und Plattformen bis hin zu einem Aufzug, der hinunter in die Arena führte. Sobald sie die untere Etage erreicht hatten, dröhnten ihnen Jubel und Kampfgeräusche entgegen. „Ah, sieht so aus, als wäre da gerade etwas im Gange“, freute sich Hraylla und winkte die anderen an die Brüstung heran. In der groß angelegten Arena lieferten sich gerade zwei Soldaten einen Faustkampf, der vom Gejohle auf der Tribüne begleitet wurde. „Gib’s ihm, Raccus!“, brüllte ein Zuschauer neben Sai und erhielt den zustimmenden Jubel der anderen Zuschauer. Einer der Kämpfer war deutlich größer als sein Gegner und donnerte diesem einen Hieb nach dem anderen in die Magengegend. Rama rümpfte die Nase und meinte zu Cho und Sai gewandt: „Welch ein eigenwilliger Wettkampf. Sogar die Schüler im Seitung-Kloster kämpfen zivilisierter.“ Das entlockte Blaire und Kasmeer ein Lachen, woraufhin Hraylla augenzwinkernd hinzufügte: „Charr sind nicht unbedingt für ihre Sanftmütigkeit bekannt, wisst Ihr?“ Rama grummelte irgendetwas von „seltsamen Bräuchen“, bis Cho ihn liebenswürdig in den Arm kniff und die Gruppe sich dazu entschloss, weiterzuziehen. Mit dem Aufzug fuhren sie zurück, hinauf bis zum Ehrenmal-Quadrant. Blaire bedeutete ihnen stehenzubleiben und sah dann hinauf zu dem riesigen runden Gebäude. „Es wird Zeit, Euch das Herzstück der Zitadelle zu zeigen. Kommt, wir haben eine Verabredung mit Eisen.“

Kapitel 11: Ein Tribun mit Biss

Die große Metallkugel, die anscheinend den Namen „Imperator-Kern“ trug, war von innen noch beeindruckender als von außen, so fand Sai. Eine geschwungene Wendeltreppe verband die verschiedenen Etagen des Gebäudes, und je höher man stieg, desto wichtiger wurden die Leute. Da Blaire den Trupp in das oberste Stockwerk führte, vermutete Sai, dass die Person, die sie gleich aufsuchen würden, ein höhergestellter Soldat der Zitadelle sein musste. Auf ihrem Weg wurden sie teils misstrauisch, teils neugierig beäugt, und wo auch immer die Canthaner einen Schritt hin machten, entfachte Getuschel unter den Anwesenden. Der Hauptmann kam vor einer schweren Tür zum Stehen, da eine Wache ihr den Weg versperrte. „Wohin glaubt Ihr, dass Ihr geht, Mensch?“ „Wir möchten zu Tribun Metzelklinge. Wir werden erwartet.“ Mit einem Schnauben trat die Wache zur Seite und gab den Weg frei zum Durchgang ins Innere des Kerns. Etwas kleinlaut folgten ihr die anderen und hielten sich dicht an den Hauptmann, da ihnen jetzt deutlich missbilligendere Blicke zugeworfen wurden als zuvor. Während Sai dem Rest eine Rampe hinauffolgte, erblickte sie in der Mitte des Kerns einen stattlichen Lehnstuhl, der allerdings leer war. „Wem gehört der Stuhl?“, fragte sie Kasmeer murmelnd und beobachtete, wie das Lächeln der Mesmerin verschwand. „Im Moment gehört er niemandem. Sein letzter Besitzer ist im Kampf gegen Jormag gefallen.“ Etwas bedrückt warf Sai noch einen letzten Seitenblick auf den Thron, dann folgte sie Blaire zu einem kleineren Raum am Rande des Saales. Dort saß an einem unordentlich aussehenden Schreibtisch ein älterer Charr, der die Neuankömmlinge mit verschränkten Armen empfing. „Castarmore! Ich dachte schon, Ihr kommt gar nicht mehr“, scherzte er dann und stand auf, um Blaire die Hand zu schütteln. „Tribun Metzelklinge, wir bedanken uns für den netten Empfang. Meine Gäste sind Euch sicherlich nicht unbekannt. Ministerin Min, dies ist Bhuer Metzelklinge, Tribun der Eisen-Legion und auch ein guter Bekannter des Pakt-Kommandeurs.“ Bhuer lachte auf und schnaufte: „Oh, ich kenne den Kommandeur bereits eine gefühlte Ewigkeit. Der beste Kommandeur, mit dem ich je Seite an Seite kämpfen durfte.“ Rama neigte den Kopf und meinte: „Er hat uns bei der Schlacht um das Jademeer sehr geholfen.“ „Davon hörte ich! Wie dem auch sei, willkommen in der Zitadelle. Wie gefällt Euch unsere Stadt?“ Rama räusperte sich und meinte dann: „Es ist … ganz anders als zu Hause. Wirklich eine aufregende Erfahrung.“ Metzelklinge verzog die Lefzen zu einem Grinsen. „Ha! Das glaub’ ich gern. Castarmore hat mich um ein Quartier für die Nacht gebeten, diesen Wunsch konnte ich einem Hauptmann der Seraphen natürlich nicht abschlagen. Ich habe Euch Gäste-Gemächer vorbereiten lassen, dann könnt Ihr morgen früh frisch gestärkt Eures Weges gehen.“ „Das ist sehr aufmerksam von Euch, Tribun. Vielen Dank“, erwiderte Min und lächelte den Charr an. Der Tribun nickte zum Ausgang. „Mein Assistent Erracus wird Euch dorthin begleiten. Ich wünsche eine angenehme Nacht.“

Kapitel 12: Der Hain

Die Morgensonne spiegelte sich auf den glänzenden Stahlpfählen, welche die Plattform zusammenhielten, auf der Sai mit Rama und Cho Min beisammenstanden. „Gut geschlafen, Rama?“, wollte Cho wissen, woraufhin Rama sich vielsagend den Nacken massierte. „Erstaunlich … gut, eigentlich.“ Sai rollte mit den Augen: „Habt Ihr etwa erwartet, dass die Charr auf Metallplatten schlafen?“ Rama sah verlegen zu Boden, während Cho sich alle Mühe gab, nicht zu belustigt dreinzuschauen. In diesem Moment kamen die Tyrianer über die Brücke gelaufen und gesellten sich zu ihnen. „Guten Morgen! Ich hoffe, Ihr seid bereit für einen weiteren Tag voller Abenteuer. Wir haben schließlich viel vor!“, rief Blaire und stemmte energiegeladen ihre Hände in die Seiten. Cho neigte den Kopf und antwortete: „Wir sind in der Tat gut ausgeruht. Die Gastfreundschaft der Charr ist uns sehr entgegengekommen. Bitte richtet Tribun Metzelklinge unseren Dank aus.“ „Das werde ich. Nun denn, lasst uns gehen!“ Blaire schritt voran durch das Asura-Portal, das sie alle zurück nach Löwenstein brachte, wo sie direkt die nächste Hauptstadt ansteuerten. Das Erste, was Sai bemerkte, als sie aus dem neuen Portal trat, war der schwere und süßliche Geruch jeder Menge ihr unbekannter Pflanzenarten. „Wow, träume ich?“, hauchte Cho und drehte sich einmal um sich selbst. Sai wollte die Begeisterung der Ministerin gerne teilen, aber in ihrem Kopf machte sich die Verwirrung breit. „Wo … sind wir?“, fragte sie Blaire, die sogleich erklärte: „Das hier ist der Hain, Hauptstadt und Heimatort der Sylvari.“ „Das … Ist das nicht …“ „ ... ein riesiger Baum, ja!“, lachte Hraylla und Rama schüttelte den Kopf. „Ich hatte keine Ahnung, dass Tyrianer gerne so groß bauen. Erst der massive Kern der Zitadelle, dann dieser unnatürlich große Baum …“ Blaire lächelte und meinte: „Der Hain wurde nicht direkt gebaut. Er ist die einzige organische Stadt Tyrias und lebt, solange der Mutterbaum es tut.“ Ein Blick nach oben verriet Sai, dass der Baum tatsächlich in die Unendlichkeit zu wachsen schien. Trotzdem war die Sicht nicht von dickem Geäst verdeckt, sondern man konnte teilweise den wolkenverhangenen Himmel sehen. Dicke Zweige vereinten sich über ihren Köpfen zu einer Baumkrone und Sai fielen besonders die riesigen Blüten und Blätter auf, die an den Ästen wuchsen. Leise fielen die Schneeflocken auf die freistehenden Flächen der Ebene, was angesichts der immergrünen Umgebung ein wenig absurd erschien. Dieser Bereich der Stadt war nicht ganz so belebt, was wohl an der deutlich kühlen Brise lag, die durch die Blätter wehte. Dennoch konnte Sai ein paar Angehörige anderer Völker ausmachen. „Leute kommen von nah und fern für die Produkte des Hains. Manches Handelsgut ist einzigartig und nur hier zu bekommen“, erklärte Hraylla, die Sais Blick auf die Reisenden bemerkt hatte. Interessiert nickte Sai und wollte wissen: „Ist es im Hain wirklich immer grün? Auch jetzt, im tiefsten Winter?“ „Ja, das liegt an der organischen Seele des Hains. Man nennt sie auch den ‚Mutterbaum‘, wie Blaire schon sagte. Sie ist gleich dort oben!“, erklärte die Norn und deutete eine Ebene höher auf eine kleinere Plattform, die gut bewacht zu sein schien. „Anhand des Mutterbaums kann man die Gesundheit des Hains erkennen. Sie war noch nie krank, mit Ausnahme während der Zeit, als Mordremoth Tyria terrorisierte.“ Hraylla schüttelte sich. „Den Geistern sei Dank sind diese dunklen Tage vorüber.“ „Dem Kommandeur sei Dank, meinst du wohl!“, zwinkerte Blaire und brachte Hraylla zum Schmunzeln. Gekicher brach unter den Anwesenden aus und Blaire winkte sie weiter ins Innere des Hains. „Lasst uns gehen, es gibt viel zu entdecken!“

Kapitel 13: Leben wie ein Sylvari

Während der Trupp weiter durch den Hain lief, verwies Blaire hier und da auf ein paar Sehenswürdigkeiten. Sai fielen besonders die leuchtenden Baumknospen sowie die große spiralförmige Ranke auf, die von der sogenannten „Omphalos-Kammer“ herunterhing. Cho Min dagegen schienen tausend Fragen ins Gesicht geschrieben zu stehen und sie sagte: „Hauptmann Castarmore, ich unterbreche die Führung nur ungern, aber ich glaube, es ist jetzt erst mal wieder Zeit für eine Geschichtsstunde.“ Die Seraphin nickte nur und fing an, das Volk der Sylvari und seine Kultur zu erklären. „Also, Sylvari werden nicht geboren, sondern ‚erwachen‘ hier, im Blassen Baum. Jeder Sylvari hat eine Lebensaufgabe, die sie ‚Wylde Jagd‘ nennen und danach streben, sie zu erfüllen. Habe ich das richtig wiedergegeben?“, fasste Cho zusammen und Blaire nickte. „Ausgezeichnet. Die Kaiserin wird von all dem hier wissen wollen, da ist es wichtig, dass ich keine Details verfälsche.“ „Ich habe so meine Zweifel, ob Euch irgendjemand die Berichte abnehmen wird, ohne es selbst gesehen zu haben, Cho“, erwiderte Rama und musste lachen. Blaire passierte eine kleine Allee und deutete auf ein großes Loch im Geäst. „Weiter geht’s!“ Gehorsam folgte die Gruppe dem Hauptmann unter einem verwachsenen Torbogen hindurch auf eine tiefer gelegene Ebene des Baums. Von der Decke hingen rosafarbene Blumengirlanden und anderes buntes Gewächs, das in Sai sofort eine wohlige Stimmung auslöste, denn es erinnerte sie ein bisschen an die pinken Blütenbäume zu Hause in Cantha. Im Hain gab es keine richtigen Straßen sondern nur jede Menge Trampelpfade, die sich kreuz und quer über die Ebene erstreckten. Hohle Bäume und Gestecke aus großen Blättern und Blüten dienten als Gebäude und an jeder Ecke wuchsen leuchtende Blumen aus dem Boden, die ein warmes Licht abgaben. Die Luft summte vor lauter Leben. Strahlender Staub warf ein sanftes Licht über den Platz. ‚Für eine Großstadt ist es erstaunlich friedlich hier‘, dachte Sai und beobachtete einen Frosch, der in einem kleinen Tümpel umherschwamm. „Was möchtet Ihr zuerst sehen?“, fragte der Hauptmann und machte eine weitläufige Handbewegung um sie herum. „Mich würde interessieren, wie das Wirtschaftssystem der Sylvari funktioniert“, meinte Rama und Blaire neigte den Kopf. „Der Markt also. Los geht’s!“

Kapitel 14: Ein ungeplanter Überfall

Wider Erwarten ging es auf den Marktplätzen des Hains ähnlich geschäftig zu wie auf denen von Götterfels. Kauf- und Handelsleute aller Art priesen ihre große Auswahl an Waren an und gingen ihrem Handwerk nach. „Hier findet man alles von Melonensaft bis zu Höhlensporen“, erklärte Blaire und fügte mit leuchtenden Augen hinzu: „Wir sollten uns unbedingt etwas Herbstnektar besorgen! Er ist nirgends besser als hier!“ „Aber, aber, Hauptmann. Wir sind im Dienst!“, belächelte Hraylla sie und Blaire fügte etwas kleinlaut hinzu: „Ich habe ja nicht gesagt, dass wir ihn jetzt trinken müssen. Außerdem wäre es bestimmt ein schönes Mitbringsel für Cantha.“ Sai hörte dem freundschaftlichen Gezänk der beiden schon gar nicht mehr zu, denn etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. In einer gut geschützten Stammhöhle unweit von ihr entdeckte die Mechanikerin eine Vielzahl an kleinen Handwerksstätten. Hier wurde fleißig gehämmert und genäht, gebraut und sogar gekocht. Sai erinnerte sich, solch eine Handwerksstätte bereits in den anderen Großstädten gesehen zu haben. Es schien ein zentraler Teil jeder Stadt zu sein und war allem Anschein nach auch gut besucht. Während ihres eingehenden Studiums der Schmiede bemerkte sie gar nicht, wie sich zwei jung aussehende Sylvari näherten. „Seid gegrüßt! Ihr seid aus Cantha, nicht wahr?“ Sai schreckte auf und sah in das Gesicht eines neugierigen Sprösslings. „Äh, ja, das bin ich.“ „Oh, großartig! Wir haben Eure seltsame Kleidung gesehen und schon gedacht, dass Ihr nicht von hier seid“, platzte nun auch der andere Sprössling dazwischen und Sai blinzelte irritiert mit den Augen. Die Sylvari sahen sich an und riefen dann unisono: „Wir haben ja so viele Fragen!“ Einen Herzschlag später wurde Sai von einer großen Ladung Fragen übergossen. „Wie viele Fischarten habt ihr?“, „Wie sind die Tengu in Cantha so? Vertragt Ihr euch gut mit ihnen?“, „Was ist Euer Lieblingsgericht? Bestimmt etwas mit Fisch!“, „Wie funktioniert Euer Schulsystem?“, „Habt Ihr jemals einen Zentauren gesehen?“ Langsam versuchte Sai, sich mit kleinen Schritten nach hinten aus dem Verhör zu befreien, aber die Sprösslinge ließen nicht locker. Da kam ihr Hraylla zur Hilfe, die sich mit verschränkten Armen vor den Sylvari aufbaute. „Es ist verständlich, dass Ihr so viele Fragen an unseren Gast habt, aber wir sind auf einer wichtigen diplomatischen Mission und dürfen keine Zeit verlieren“, meinte sie mit einem sanften Lächeln und die jungen Sylvari machten große Augen. „Eine Mission? Oh, wie aufregend! Können wir Euch begleiten? Wir waren noch nie auf einem Abenteuer!“, rief der kleinere Sprössling und Hraylla meinte ausweichend: „Heute nicht, aber vielleicht ein andermal. Euer Abenteuer wird Euch früh genug einholen, seid versichert!“ Dann zog die Norn Sai zurück zur Gruppe und murmelte: „Puh, Sprösslinge. Ziemlich anstrengend, die Kleinen. Sie sind neugieriger als Asura-Nachwuchs …“ Sai richtete ihre Rüstung und räusperte sich. „Danke für die Rettung.“ „Keine Ursache! Stets zu Diensten“, sagte Hraylla und zwinkerte Sai aufmunternd zu, bevor sie sich wieder der Gruppe anschlossen.

Kapitel 15: Die Gärten des Tageszyklus

„Unsere letzte Station im Hain: die Ebene der Gärten! Das sind die Wohngebiete der Sylvari“, erklärte Blaire und fuhr fort: „Je nachdem zu welcher Tageszeit ein Sylvari erwacht ist, wird er einem Haus zugewiesen: Morgendämmerung, Mittagsstunde, Abenddämmerung und Nacht.“ „Was macht es für einen Unterschied, wann jemand geboren wurde?“, wollte Cho wissen und Blaire sprach weiter: „Man sagt, sie haben dann unterschiedliche Eigenschaften und Stärken. Die Setzlinge des Morgengrauens sind sehr einfühlsam, die des Tages sehr mutig, den Setzlingen der Abenddämmerung wird Nachdenklichkeit nachgesagt und denen der Nacht besondere Schläue.“ „Ich verstehe. Aber sagt, Hauptmann Castarmore, woher wisst Ihr so viel über die verschiedenen Völker?“ „Als Dienerin des Throns habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, meine Königin so gut wie möglich zu beschützen und zu unterstützen. Das geht am besten, wenn man die Umgebung, in der man sich befindet, genau kennt. Ihr und ich, wir sind uns in unserer Jobwahl nicht ganz unähnlich, Ministerin Min.“ „So habe ich es noch nie betrachtet, aber Ihr habt natürlich Recht!“, rief Cho und nickte bestätigend. Die Gruppe schritt weiter voran durch die Ebene der Gärten und bewunderte die Baukunst der Sylvari. Jedes Gebäude bestand ausschließlich aus organischem Material und wirkte dennoch beeindruckend stabil. „Ich muss sagen, dieser Besuch im Hain hat sich wahrlich wie ein Kurzurlaub angefühlt“, sagte Rama und lächelte wohlwollend. Cho Min gab hinzu: „Ein äußerst lehrreicher Urlaub noch dazu!“ Sai konnte an Kasmeers glänzenden Augen erkennen, dass sich die krytanische Diplomatin sehr über diese Aussage freute. Die Mesmerin deutete zu einer großen Villa auf der anderen Seite des Plateaus. „Das dort ist übrigens das Haus Caithe. Soweit ich weiß, besucht sie den Hain aber nur noch selten. Als Anführerin der Kristallblüte hat sie recht viel zu tun gehabt.“ „Ah, die Sylvari, die Aurene so nahe steht! Sie ist wirklich eine einzigartige Persönlichkeit“, kommentierte Cho und Kasmeer schmunzelte. „Das kann man wohl sagen.“ Die beiden wurden vom Hauptmann unterbrochen, denn sie hatten wieder das Asura-Portal erreicht. „Zwei weitere Städte liegen noch auf unserem Weg, und anschließend sollten wir pünktlich zum Winterfest wieder in Götterfels ankommen. Gehen wir!“

Kapitel 16: Rata Sum

Nach einer kurzen Pause in Löwenstein machte sich die Gruppe erneut auf zum Colioris-Platz. „Die Stadt, die wir gleich besuchen werden, ist etwas … strenger, wenn es um Sicherheitsvorkehrungen geht. Deshalb bitte ich Euch, stets bei der Gruppe zu bleiben“, bat Blaire sie und deutete dann auf eines der Portale, das von zwei der kleinen seltsamen Wesen bewacht wurde, die sich Asura nannten. Die beiden Wachen beäugten den Trupp prüfend, winkten sie aber durch und so konnte einer nach dem anderen durch das summende Portal schreiten. Sai musste die Augen zusammenkneifen, um sich vor dem hellen Licht zu schützen, und öffnete sie erst wieder, als der Lautstärke-Pegel deutlich anschwoll. Vor ihr erstreckte sich ein Gebilde, das nur aus Würfeln und Dreiecken zu bestehen schien. Direkt in der Mitte der Plattform thronte ein riesiger Kubus, der ohne Stützen in der Luft schwebte. Blaire drehte sich zu der versammelten Gruppe um. „Nun, Ihr seht hier die Hauptstadt der Asura: Rata Sum! Vier Stockwerke, jede Menge Außenposten und eine noch größere Menge Technologie. Die größten Genies und Denker Tyrias stammen von hier sowie jegliche Asura-Technik, die Ihr in Tyria bisher gesehen habt. Die Asura sind wahrlich ein wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft. Wenn man nur bedenkt, was allein die Asura-Portale schon für einen Unterschied im Reisen machen!“ Sai nickte interessiert. „Die Asura sind für Euch genauso wichtig wie für uns die Jade-Technologie. Ohne sie wären wir um Jahrzehnte im Rückstand.“ „Ganz recht! Ich bin mir sicher, dass die Canthaner aus dem Handel mit den Asura den meisten Nutzen ziehen werden. Es sieht so aus, als würde uns eine revolutionäre Zukunft bevorstehen!“, rief Blaire aus und auch Kasmeer lächelte zufrieden. Der Hauptmann begann mit der Tour durch die Stadt direkt unter dem großen Würfel. „Im Gegensatz zu anderen Städten ist die Oberfläche von Rata Sum recht unspektakulär, die wahren Schätze befinden sich im Inneren. Die einzige Ausnahme stellt wohl der Tagungsort des Arkanen Rats dar, die Ratsebene dort oben.“ Blaire machte eine ausschweifende Handbewegung und meinte: „Der Großteil von Rata Sum besteht aus Laboren und Handwerksstätten. Hier gibt es auch kein Klassensystem, sondern man schließt sich in jungen Jahren einem der drei Kollegien an: Dynamik, Synergetik oder Statik.“ „Das System der Asura basiert also auf Studienrichtungen?“, fasste Rama zusammen und strich sich nachdenklich über den Bart. Blaire stimmte zu und versammelte die Gruppe am Rand des Plateaus. „Lasst uns eine Ebene tiefer gehen!“

Kapitel 17: Das Akzessorium

Blaire behielt Recht: Sobald man tiefer in das Innere des Würfels vordrang, wurde die Atmosphäre belebter und geschäftiger. Die Ebene, die nun folgte , war offensichtlich geprägt von der Börse und dem Handel. Auf einer dreieckigen Fläche befanden sich die Standorte der Bank, des Handelspostens und anderer Buchhaltungsgesellschaften. In sternförmigen Abzweigungen gelangte man zu den unterschiedlichen Werkstätten, die im Gegensatz zu denen der Sylvari sehr modern und effizient erschienen. Auch wenn sich Sai noch keine Stunde in Rata Sum aufgehalten hatte, war diese Stadt dennoch definitiv ihr Favorit. ‚Hoffentlich finde ich einmal die Zeit, hier einen längeren Aufenthalt zu planen‘, dachte sie bei sich und musste dem Drang widerstehen, in die Abteilung der Konstrukteure zu laufen. „Wie Ihr sicher schon bemerkt habt, befinden wir uns im Zentrum der Stadt, dem Interdisziplinären Akzessorium. Von hier aus erreicht man auch die Union der Dynamik, Statik und Synergetik.“ „Wie unterscheiden sich die Kollegien?“ „Die Mitglieder der Dynamik gelten als impulsiv und enthusiastisch. Sie starten ein Projekt lieber sofort, anstatt sich erst Gedanken über mögliche Folgen zu machen. Was manchmal, sagen wir, in unerwarteten Explosionen enden kann. Dagegen steht das Kolleg der Statik. Diese Asura haben eine eher konservative, traditionelle Einstellung. Statiker üben übrigens einen großen Einfluss auf die Architektur der Asura aus.“ „Die Bauingenieure der Stadt also“, fasste Rama zusammen, ließ Blaire aber fortfahren. „Zuletzt hätten wir da noch das Kolleg der Synergetik. Mitglieder dieses Kollegs studieren die Ewige Alchemie und das Zusammenspiel der Dinge.“ Da schaltete sich Kasmeer ein. „Unsere Freundin Taimi studiert an diesem Kolleg. Sie ist die außergewöhnlichste Asura, die ich je getroffen habe.“ „Ja, für so ein junges Ding hat sie erstaunlich viel Ahnung von den Systemen der Welt“, murmelte Sai und rief sich ins Gedächtnis, mit wie viel Ehrgeiz und Interesse die kleine Asura mit Lady Yu Joon über Jade-Technologie gefachsimpelt hatte. Sai erhöhte ihr Tempo zu einem Laufschritt, um zum Rest der Gruppe wieder aufzuschließen. ‚Nicht, dass ich noch einen Friedenswächter oder gar einen Golem auf mich aufmerksam mache‘, dachte die Mechanikerin und warf einen letzten prüfenden Blick zu den Wachen, die die Plattform bewachten.

Kapitel 18: Zurück in die Schule

Die unterste Ebene von Rata Sum gab Sai beim Betreten gleich ein heimisches und gemütliches Gefühl. Zwischen den würfelförmigen Gebilden wuchsen wie auch sonst überall in der Stadt verschiedene Pflanzen und Bäume, und wenn man nicht auf den Boden achtete, konnte man sehr leicht über eine Wurzel stolpern. Besonders schön fand Sai die riesigen Aquarien, die sich hinter den Glasfassaden der Ebene befanden. „So was brauche ich auch in meinem Haus“, meinte Rama scherzhaft und grinste. Sai sah ihn mit erhobenen Augenbrauen an. „Wie jetzt, Ihr besitzt Humor, Rama? Ich meine, Ihr könnt ja sogar grinsen.“ Die Fröhlichkeit war schlagartig wieder aus dem Gesicht des Detektivs verschwunden und er gab mürrisch zurück. „Ja, stellt Euch vor, Shao Kan, ich bin kein emotionsloser Stein wie Ihr.“ „Ihr beiden, genug“, sagte Cho Min sanft und die beiden Streithähne ließen voneinander ab, aber nicht, ohne sich noch vielsagende Blicke zuzuwerfen. Insgeheim musste Sai selber grinsen. Sie liebte es, den stets schlecht gelaunten Detektiv aufzuziehen. Über die Jahre hatte sich zwischen ihnen eine Art konkurrierende Kollegialität entwickelt, die von diesen Zankereien lebte. Hraylla war vor einem der Aquarium-Fenster stehen geblieben und bewunderte die bunten Korallen. „Wie machen die Asura das nur? Ich meine, wir befinden uns in einem Würfel hoch oben in der Luft und sie haben es trotzdem geschafft, hier Wasserpflanzen großzuziehen.“ Blaire schüttelte amüsiert den Kopf und meinte: „Sie sind nicht umsonst die Genies unserer Zeit. Wir befinden uns übrigens in den Wohnquartieren der Studenten. Hier können sie in Ruhe lernen, tüfteln und ihrem Alltag nachgehen. Deswegen auch die heimische Einrichtung. Dort drüben kann man außerdem noch das Hauptquartier der Friedensstifter finden sowie den Zugang zum Zellenblock. Nun, das war es eigentlich schon mit der Tour. Zu den Außenposten von Rata Sum werden wir wohl keinen Zutritt bekommen: Da sind die Asura wirklich sehr akribisch mit der Freischaltung.“ „Dort unten ist es sowieso nicht so spannend. Es gibt nicht viel zu sehen außer der Labore und dem Hafen“, meinte Kasmeer schulterzuckend und lenkte die Truppe in Richtung der Rampen. „Wir sollten zurück nach oben gehen, ich vermisse die Schneeflocken schon.“

Kapitel 19: Gekidnappt

Zurück an der Oberfläche des Würfels fing Sai sogleich an, die kuschelige Wärme der Studentenwohnheime zu vermissen. Cho hingegen schien es zu genießen, wieder an der frischen Luft zu sein, und plauderte munter weiter: „Die Asura sind wirklich bemerkenswert. Ich kenne einige Canthaner, die sich darum reißen würden, diese Stadt besuchen zu können. Detektiv Rama, vielleicht sollten wir ihnen die Reise vereinfachen, indem wir – Rama?“ Erstaunt blieb Min stehen, als sie bemerkte, dass der Detektiv nicht mehr anwesend war. Jetzt wurden auch die anderen auf das Verschwinden des Canthaners aufmerksam und sahen sich suchend zu allen Seiten um. „Oh je, ich hoffe, er hat sich nicht verlaufen. Wir sollten uns aufteilen und nach ihm suchen“, schlug Blaire vor, doch Sai meinte nur grinsend: „Nicht nötig. Da ist er.“ Tatsächlich kam Rama eine der Rampen hochgestapft, begleitet von einer Gruppe Friedenswächter. „So versteht doch, ich wollte nicht in die Schlafsäle des Kollegs einbrechen! Aargh, hört mir denn niemand zu?!“, zeterte der junge Mann, wurde aber gleich von einer Wache zurechtgewiesen. „Ihr habt Euch verdächtig vor dem privaten Bereich der Dynamik-Studenten aufgehalten, das verletzt unsere Hausregeln. Ihr werdet in Untersuchungshaft gebracht.“ „Bei Archemorus, das kann ja nicht wahr sein! Wisst Ihr überhaupt, wer ich bin?“, regte sich Rama weiter auf, bis Blaire sich erbarmte und vor die Friedenswächter trat. „Meine Herren, ich fürchte, hier liegt ein schweres Missverständnis vor. Detektiv Rama gehört zu meiner Gruppe und wir sind nur auf der Durchreise.“ „Und Ihr seid?“, wollte ein misstrauisch dreinschauender Asura wissen, wich dann aber zurück, als Blaire die Arme verschränkte und sagte: „Blaire Castarmore, Hauptmann der Seraphen von Götterfels. Begleitet von Kriegsmeisterin Hraylla Vikardottir von den Wachsamen und Fürstin Kasmeer Meade, Botschafterin der Königin.“ „Hm, nun gut, Hauptmann. Wir übergeben den Missetäter in Eure Hände. Und behaltet ihn ab jetzt bei Euch!“, schnaubte die Wache und der Trupp zog von dannen. „Missetäter?!“, rief Rama entrüstet aus, aber Cho Min legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Sai konnte ihr Kichern nicht mehr zurückhalten und brach in helles Gelächter aus. „Das glaubt mir zu Hause niemand! Rama, der Wachhund des kaiserlichen Palastes, wird wegen Hausfriedensbruch festgenommen!“, lachte die Mechanikerin und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Ja. Wirklich amüsant“, brummte Rama und verschränkte beleidigt die Arme. Blaire sah beschwichtigend in die Runde und sagte: „Ich glaube, es wird Zeit, dass wir weiterziehen. Nächste Station: Hoelbrak!“

Kapitel 20: Hoelbrak

Ein kalter Windstoß riss Sai aus der Trance des Teleportierens, und sie schlang reflexartig ihre Arme um sich. Auch Cho Min und Rama schien die plötzliche Kältewelle nicht zu behagen. „Kommt es nur mir so vor oder ist es hier deutlich kälter als im verschneiten Götterfels?“, bibberte Cho und Kasmeer zog ihren Mantel fester zu, bevor sie antwortete: „Das liegt daran, dass Hoelbrak im Zittergipfel-Gebirge liegt. Hier ist es schon im Sommer kalt, aber im Winter fallen die Temperaturen noch einmal um ein Vielfaches.“ Rama starrte Hraylla an, die die Kälte im Gegensatz zu allen anderen nicht zu stören schien – und das trotz ihrer recht freizügigen Rüstung. Hraylla bemerkte den Blick und lachte laut auf. „Wisst Ihr, es wäre doch recht wunderlich für uns Norn, hier hoch in den Zittergipfeln zu leben, wenn wir mit ein bisschen Kälte nicht auskämen. Aber vielleicht sollten wir uns um Euretwillen in Bewegung setzen. Hier entlang!“ Eng aneinandergekuschelt, folgte die Gruppe der Norn eine kleine Treppe hinunter auf ein hölzernes Plateau. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Sai, die Umrisse des Gebäudes vor ihr auszumachen, was angesichts des dichten Schneegestöbers allerdings fast unmöglich war. Hraylla führte sie vorbei an Marktständen und Kaufleuten und erklärte nebenbei: „Hoelbrak hat sich zum sozialen Mittelpunkt der Norn entwickelt. Nachdem der Alt-Drache Jormag unsere Vorfahren aus den Fernen Zittergipfeln vertrieben hatte, führten sie die Geister der Wildnis – die große Bärin, der Wolf, die Schneeleopardin und der Rabe – in dieses neue Gebiet. Die vier großen Hallen dort drüben sind aus eben diesem Grund den Geistern gewidmet. Die Schamanen halten dort den Glauben an unsere Patrone fest. Die Große Halle hier ist die Wohnstatt von Knut Weißbär, unserem derzeitigen Anführer.“ Die Wachsame deutete auf eine immense Doppeltür, die den Eingang zum Zentrum der Stadt offenbarte. Gespannt folgte Sai den anderen durch die Tür ins Innere der Halle und bekam große Augen bei dem Anblick, der sich ihr bot. Eine Vielzahl an Stockwerken erstreckte sich in die Höhe und wurde unter einem hölzernen Dom vereint. Große Feuerschalen erleuchteten die Halle und in der Mitte der untersten Ebene hing ein riesiger Drachenzahn, der im Licht der Flammen glänzte. Hraylla stemmte ihre Hände in die Seiten und verkündete: „Willkommen im Herzstück unserer Stadt. Der riesige Klunker da drüben ist Jormags Zahn, jetzt das letzte Überbleibsel des Alt-Drachen. Dahinter befindet sich der Zutritt zum Speicher, von wo aus Knut alles im Blick behält. Hier findet Ihr die Stimmung und das Bier, von dem Ihr nicht wusstet, dass es Euch fehlt. Fühlt Euch wie zu Hause!“

Kapitel 21: Die Schneeleopardin segne Euch!

Nachdem sich alle in der Großen Halle wieder aufgewärmt hatten, ging die Tour durch Hoelbrak weiter. Die Dämmerung hatte eingesetzt und das Schneetreiben hatte sich gelegt. Die Feuerschalen warfen tanzende Schatten an die Wände und Säulen des Handelszentrums, welches die Gruppe nun verließ und sich auf in Richtung der vier anderen Hallen machte. „Diese Eisskulpturen vor jeder Halle sind beeindruckend. Dagegen wirken die Jade-Statuen vor unserem Palast wie Spielfiguren“, murmelte Sai und bestaunte die Statuen der gigantischen Wölfe zu ihrer Rechten. „Welchem Geist folgt Ihr, Hraylla?“, wollte Cho interessiert wissen und die Norn zeigte mit einem Kopfnicken zur Halle am linken äußeren Ende. „Die Schneeleopardin leitet mich, seit ich klein war. Sie lehrte mich Unabhängigkeit und strategische Finesse sowie Heimlichkeit und Heiterkeit, auch Gefahren gegenüber. Wenn Ihr wollt, zeige ich Euch unsere Halle.“ „Es wäre uns eine Ehre.“ So stapften die Reisenden durch den Schnee zur Halle der Schneeleopardin und betraten das wohlige Warm des geräumigen Saals. Die Inneneinrichtung glich der der Großen Halle und strahlte auch die gleiche Heimlichkeit und Geborgenheit aus. Hraylla näherte sich einer in Fellen gekleideten Frau und neigte den Kopf. „Valharantha, die Schneeleopardin führe Euch. Ich bringe Gäste aus weiter Ferne in unser Heim.“ Die Schamanin lächelte liebevoll auf Hraylla hinab wie eine Mutter auf ihr Kind. „Hraylla Vikardottir, willkommen zu Hause. Gäste aus weiter Ferne, sagtet Ihr? Nun, dann heiße ich auch sie herzlich willkommen.“ Cho, Rama und Sai neigten ebenfalls ihre Köpfe und folgten Hraylla dann weiter ins Innere der Halle. In jeder Ecke waren Sitzgelegenheiten platziert, helle Feuerstellen wärmten den Boden und Felle schmückten die Wände. „Die Hallen von Hoelbrak funktionieren im Prinzip wie massive Wohnzimmer und Heiligenstätten zugleich. Hierher kann man sich zurückziehen, um beisammenzusitzen, Geschäfte zu besprechen oder sich auszuruhen, aber auch seinen Glauben zu ehren und sich spirituell zu sammeln“, sagte Hraylla mit einem Blick zu dem großen Schrein der Schneeleopardin, der an der Wand aufgestellt war. „Der perfekte Rückzugsort nach einem langen Arbeitstag, wenn man nicht alleine in seinem Heim sitzen möchte.“ „Die Norn scheinen mir das geselligste Volk von allen zu sein“, meinte Cho und erntete zustimmendes Nicken von den anderen. „Lasst uns die Tour fortsetzen, bevor die Nacht hereinbricht. Gehen wir.“

Kapitel 22: Die letzte Station

Hraylla führte die Truppe zurück auf den Platz der Macht, der sich im Zentrum der vier Hallen befand. In der Mitte thronte die größte Feuerschale, die Sai je gesehen hatte. Gruppen von Norn hatten sich darum versammelt, um sich für eine Weile aufzuwärmen, bevor sie weiter ihres Weges gingen. „Da die Nacht bald über uns hereinbrechen wird und ich Euch nicht zumuten möchte, den ganzen Weg zurück nach Götterfels noch heute zu machen, seid Ihr herzlich eingeladen, in meiner Hütte zu übernachten.“ „Wie großzügig von Euch, Hraylla!“, rief Cho entzückt und lächelte die Norn dankbar an. „Meine Hütte liegt etwas außerhalb von Hoelbrak, deswegen sollten wir uns jetzt schon auf den Weg machen. Vorher aber zeige ich Euch noch das belebteste Viertel der Stadt.“ Im Gleichschritt ging es weiter über eine breite hölzerne Brücke in den Osten von Hoelbrak bis hin zu einer kleinen Ansammlung an Hütten. Hraylla deutete auf die beiden größten Gebäude und erklärte: „Das hier nennen wir ‚das Frostbecken‘. Es dient hauptsächlich als Wohngebiet, aber da die meisten Norn es bevorzugen, in der freien Wildnis zu leben, ist es im Gegensatz zu dem der anderen Städte recht klein. Die beiden großen Hütten da gehören einmal dem alten Fiach, und die andere nennt sich ‚die Prahlhalle‘. Wann auch immer ein Prahlerei-Wettbewerb stattfindet, ist hier der Jotun los.“ „Äh, ‚Prahlerei-Wettbewerb‘?“ „Ihr müsst wissen, die Norn sind ein sehr stolzes Volk. Sie leben für Herausforderungen und Wagnisse. Naja, zumindest die meisten von ihnen“, schaltete Blaire sich ein und Hraylla setzte hinzu: „Der Ehrgeiz wird uns sozusagen mit in die Wiege gelegt. Nun denn, da ist das Tor zum Wanderer-Hügel! Mein Heim ist einen kurzen Marsch den Weg hinunter.“ Mit müden Beinen folgte Sai dem Rest den engen Pfad der Schlucht hinunter. Nach drei Tagen Reise war auch die Mechanikerin erschöpft. Umso mehr freute sie sich auf ein gemütliches Bett und eine warme Tasse Tee. Der Weg führte vorbei an ein paar Wasserfällen und einem Waldstück bis hin zu einer fast versteckten Hütte mitten in der Wildnis. „Das ist das Frostbach-Gehöft. Es gehört meinem Onkel. Er ist allerdings zur alljährlichen Jagdsaison in den Süden aufgebrochen und währenddessen kümmere ich mich um den Hof“, sagte Hraylla und öffnete die Tür mit einem Schlüssel. „Hereinspaziert! Macht es Euch gemütlich, ich setzte gleich Teewasser auf.“

Kapitel 23: Geselliges Beisammensein

Die Schwärze der Nacht hatte sich über das Tal gelegt und die Tiere der Nacht waren aus ihren Schlupflöchern gekommen. In der Hütte des Frostbach-Gehöfts allerdings ging es munter zu, denn die ganze Reisegruppe hatte sich um das Lagerfeuer versammelt und unterhielt sich über die vergangenen Tage. „Ich werde nie Euer Gesicht vergessen, als wir die Schwarze Zitadelle zum ersten Mal betreten haben“, meinte Rama süffisant und grinste Sai an. „Und ich werde Euch nie vergessen lassen, dass Ihr von Asura gekidnappt wurdet!“ „Schon gut, schon gut, Ihr habt gewonnen“, verteidigte sich Rama und hob geschlagen die Hände. „Erinnert Ihr euch noch an die Wärme des Hains? Oh, so eine immergrüne Stadt hat wirklich ihre Vorzüge“, schwärmte Cho und Blaire lachte auf. Kasmeer beugte sich vor und sah interessiert in die Runde. „Mich würde es sehr faszinieren zu erfahren, welche Stadt Euch am Besten gefallen hat.“ Cho sah nachdenklich zur Decke und nahm dann einen Schluck Tee. „Hmm, eine schwere Entscheidung. Aber ich glaube, ich habe mich in Götterfels am wohlsten gefühlt. So viele verschiedene Kulturen und Möglichkeiten. Da könnte sich Neu-Kaineng eine Scheibe abschneiden.“ „Rama?“ „Ich wähle den Hain. Er hat für mich weniger wie eine Großstadt, sondern viel mehr wie ein Ort der Ruhe und Entspannung gewirkt. Das war eine echte Abwechslung zu meinem sonst so stressigen Alltag. – Sai, was sagt Ihr?“ Sai musste nicht lange überlegen und sagte: „Rata Sum! Ein Ort der Technik und Intelligenz, dort sehe ich mich. Die Asura haben Außergewöhnliches geleistet und ich würde sehr gerne mehr Zeit dort verbringen.“ Cho Min lächelte und meinte augenzwinkernd: „Wer weiß, wann der nächste diplomatische Besuch ansteht, da dürft Ihr bestimmt wieder mit.“ „Bloß nicht! Ich werde die ganze nächste Woche Muskelkater haben vom vielen Laufen!“, jammerte Rama und rieb sich die Knie. Gelächter brach in der Runde aus und Blaire kommentierte: „Ich hoffe, dass Euch die Tour durch Tyria trotz Kniebeschwerden Spaß gemacht hat. Es war mir eine Ehre, Euch zu begleiten.“ „Hauptmann Castarmore, das kann ich nur zurückgeben. Solltet Ihr jemals Seitung besuchen, fragt nach mir und ich werde Euch höchstpersönlich einen Rundgang der Provinz geben!“, lachte Cho und die beiden Frauen schüttelten sich die Hände. Sai lehnte sich zurück und gab einen entspannten Seufzer von sich. Die Plauderei zog sich noch durch die ganze Nacht, bis sich die Truppe dann in den frühen Morgenstunden endlich zu Bett begab.

Kapitel 24: Wintertag

Die Straßen von Götterfels waren voll an diesem Tag. Besucher von nah und fern waren gekommen, um den alljährlichen Wintertag in der Menschen-Hauptstadt zu feiern. Die Stadt war festlich geschmückt und passend zum Feiertag auch knöchelhoch eingeschneit, was die Atmosphäre noch schöner machte. Glockenhelle Musik drang aus den Gassen und an jeder Ecke stand ein kleiner, dekorierter Wintertagsbaum. Im Mittelpunkt der Festlichkeiten stand natürlich der Kronpavillon, wo sich die meisten Gäste tummelten. Riesige Geschenkehaufen und Schneemänner schmückten den Platz, rote Zuckerstangen und Girlanden hingen von oben herab und leuchtende Sterne verzierten die Balustraden. Es gab eine Menge zu sehen, von Tixx’ wundersamen Luftschiff, prall gefüllt mit Spielzeugen, über ein Glockenspiel-Ensemble bis hin zu Tixx’ Infinirarium. Unweit eines Wintertag-Händlers standen Sai, Cho und Rama zusammen mit Kasmeer und Hraylla und genossen eine Auswahl an Süßigkeiten, die sie beim Schneeballkrawall gewonnen hatten. „Welch ein wunderbares Fest!“, stellte Cho schwärmen fest und bekam als Antwort nur ein Nicken von Rama, der die Backen voll hatte. Hraylla biss zufrieden in einen Lebkuchen und nuschelte: „If finde, Wintertag ift der befte Feiertag. Allein wegen def Effenf!“ Kasmeer kicherte, erspähte dann aber jemanden in der Ferne und winkte aufgeregt. „Blaire! Hier drüben!“ Die Gruppe drehte sich zu dem Hauptmann der Seraphen um, die den Weg entlangstolziert kam. „Ah, meine Freunde! Schön, Euch so munter zu sehen. Ich hoffe, Ihr genießt das Fest?“ „Und wie! Kommt doch mit uns, wir wollten uns eben etwas zu trinken gönnen!“ „Eigentlich bin ich im Dienst. Die Seraphen sind schließlich für die Sicherheit und das Wohlergehen aller Besucher verantwortlich“, gab Blaire entschuldigend zurück, doch dann erhellte sich ihr Blick schlagartig. „Wieso treffen wir uns heute Abend nicht noch mal hier? Nach meinem Feierabend würde ich liebend gern etwas mit Euch trinken.“ „Abgemacht! Dann sehen wir uns später. Einen ruhigen Dienst noch!“, rief Hraylla der Seraphin hinterher und Blaire tippte sich zum Abschied an den Helm. Die fünf zogen im gemächlichen Schritt weiter über den Platz, lieferten sich noch zwei Runden Schneeball-Krawall und überzeugten sogar Rama, sich ihnen anzuschließen. Der Nachmittag verging schneller als gedacht und so kehrte langsam Ruhe auf dem Platz ein. Die Gruppe versammelte sich am Geländer des Pavillons und betrachtete die glänzenden Lichter, während sie auf den Hauptmann warteten. Pünktlich erschien Blaire auch auf dem Treppenabsatz und winkte ihre Freunde herbei. „Ich kenne da ein ausgezeichnetes Plätzchen, wo es herrlichen Eierpunsch gibt. Folgt mir.“
Die Seraphin führte sie in ein stilles Gässchen zu einem kleinen Gasthaus, das weit abseits des üblichen Tumults lag. „Ein echter Geheimtipp. Nur wenige Bewohner kennen diese Bar. Hereinspaziert!“, rief Blaire und öffnete die Tür. „Oskar!“ „Blaire! Schön, dich zu sehen. Oh, ich sehe, du hast Begleitung. Der Stammtisch also?“ „Vielen Dank, Oskar. Eine Runde Eierpunsch für alle bitte.“ „Kommt sofort, Hauptmann!“
Bester Stimmung ließ sich die Gruppe am größten Tisch im Raum nieder und verfiel beinahe sofort in munteres Geplauder. Als dann schließlich auch der Eierpunsch serviert wurde, war die Stimmung ausgelassen. ‚Wie gut, dass ich mit auf diese Reise gekommen bin. Das war der beste Arbeitsauftrag seit Langem‘, dachte Sai zwischen zwei Schluck Punsch und lauschte mit einem leisen Lächeln den Geschichten, die die Runde machten.


Wir wünschen Euch einen frohen Wintertag!