Halloween 2020: Geschichte - Ein Blick auf die Welt

„Da oben ist was“, behauptete Faloe erneut und lächelte den Menschen offen an.

„Da kann nichts sein. Die Klippen um die Stadt herum sind viel zu steil und unwegsam – von dort kommt nichts hier rein.“

„Wenn du das sagst“, meinte Faloe schließlich und zuckte mit ihren Achseln, sodass ihr die langen Farnblätter wieder einmal von den Schultern rutschten, über die Faloe sie so gerne drapierte. Leider hatten Farnblätter nicht die Frisiereigenschaften von Haaren, für die Faloe die Menschen- und Nornfrauen so bewunderte. Stattdessen neigte Farn dazu, immer gleich und unordentlich nach allen Seiten abzustehen. Immerhin habe ich keine Mistel oder einen Bovist auf dem Kopf, versuchte Faloe ihre Frisurprobleme vor sich selbst zu relativieren, als sie einen frischen Rollfarn zurechtrückte.

„Hör mal, Sylvari“, meinte der Löwengardist und rollte mit den Augen, als Faloe ihn mit einem Handwink unterbrach. „Ist schon gut. Du kennst dich bestimmt hervorragend da oben aus. Wenn du also sagst, da sei nichts, wird das auch so sein. Vielen Dank für deine Zeit.“

Mit einem weiteren Lächeln verneigte sich Faloe und hüpfte davon.

Nur war dort oben tatsächlich etwas gewesen. Irgendetwas hockte dort oben auf den Klippen hoch über der Stadt, um dort was auch immer zu treiben. Dabei war Löwenstein doch eine weltoffene Stadt. Warum also sollte man sich hier anschleichen wollen? Sogar dieser Menschenkönig, der inzwischen jedes Jahr im Herbst mit seinem gesamten Hofstaat in die Stadt kam, war hier inzwischen geduldet, solange er nach ein paar Wochen wieder verschwand. Tatsächlich hatten die meisten Bewohner von Löwenstein ihren Frieden mit dem Verrückten König gemacht und nicht wenige feierten den Ausbruch aus dem Alltag, auch wenn die makabren Spiele des Königs jedes Jahr den Heilkundigen und Rüstungsschmieden einen Haufen Arbeit bescherten.


Nachdenklich spähte Nadrarr über die Klippe in die Stadt Löwenstein hinab und musterte das bunte Treiben tief unter ihm. Es sah ganz so aus, als hätten die Schamanen Recht behalten, als sie ihn losgeschickt hatten, um auszukundschaften, ob der grausame Menschenkönig Thorn tatsächlich zurückgekommen war. Mit Unbehagen dachte Nadrarr an die Erzählungen der Ältesten, in denen die Jagdgesellschaft des Königs seinen Stamm bis an Grenze der Ausrottung gejagt hatte. Nicht, dass die Menschen sein Volk nicht schon vorher gehasst und verfolgt hatten, doch niemand sonst war dabei so unverhältnismäßig grausam vorgegangen wie der Pfahldorn, wie die Zentauren den König nannten.

Was mache ich jetzt? Da unten scharrt der Pfahldorn seine Anhänger – und das sind nicht nur Menschen! – um sich und prahlt mit seinen Gräueltaten. Das ist genau das, was die Schamanen befürchtet und vorhergesehen haben. Müssen wir schon wieder fliehen? Noch weiter nach Osten? Noch weiter im Osten lagen die Charrlande und eigentlich würde der Vakathi-Stamm den kriegerischen Charr nur zu gerne aus dem Weg gehen. Im Gegensatz zu den Modniir hatten die Vakathi mit der Geschichte, die leider nicht besonders freundlich zu den Zentauren gewesen war, ihren Frieden geschlossen und respektierten die Gebiete der anderen Völker Tyrias. Wenn jedoch die große Jagd der Menschen erneut begann, dann mochten die Charr das kleinere Übel sein. Die Katzen bevorzugten klar die weiten Ebenen und kamen nur selten hinauf in die Berge, wo Nadrarrs Stamm inzwischen eine neue Heimat gefunden hatte. Einem Trupp Charr konnte jeder Zentaur an den steilen Felshängen aus dem Weg klettern, bevor er überhaupt bemerkt wurde. Die Menschen waren leider eine andere Sache. Sie fanden ihren Weg überall hin, beanspruchten mit Selbstverständlichkeit selbst die entlegensten Bergweiden und duldeten keine Rasse neben sich. Schon gar nicht, wenn es Zentauren waren.


Das Geräusch fallender Steinchen riss Nadrarr aus seinen trüben Gedanken. So leise er konnte wandte er sich um und spähte auf den steilen Pfad hinab, der selbst für einen guten Kletterer der einzige Weg auf die steilen Klippen oberhalb der Stadt war. Mit Besorgnis und Faszination beobachtete Nadrarr einen wandernden Farnbusch, der sich mit Händen, geschickt wie Ranken, den felsigen Pfad hinaufarbeitete. Was war das für ein Wesen? Ein Mensch ganz eindeutig nicht, auch wenn es von den Proportionen einem Menschen nicht unähnlich war. Allerdings nur, wenn Menschen wie ein Baum austrieben und von Blättern bedeckt wären.

„Was bist du?“, fragte Nadrarr schließlich und reichte dem Farnwesen eine Hand. Überrascht sah ein von feinen Laubblättern bedecktes Gesicht zu ihm auf und musterte schließlich die dargebotene Hand, um sie zu ergreifen. Mit einem Ruck zog Nadrarr das Pflanzenwesen neben sich auf den Felskamm. „Ein Naturgeist. Was kommst du aus dem Wald und auf Felsklippen hinauf?“, fragte Nadrarr in gebrochen Neu-Krytanisch, das er auf seiner Reise durch Ascalon von einem alten Charr-Gladium und den Modniir in den Zittergipfeln gelernt hatte.

„Hu? Naturgeist? Naja, falsch ist das nicht. Ich bin eine Sylvari.“ Das Pflanzenwesen lächelte. „Warum späht ein Zentaur Löwenstein aus? Will dein Volk noch mehr Menschenblut vergießen? Wenn ja, ist dir hoffentlich klar, dass Löwenstein eine freie Stadt aller Völker ist. Hier einzumarschieren, bedeutet Krieg mit ganz Tyria.“

Sylvari also. Ja, der Weise Meelor Runenschweif von den Dunkelhuf-Höhen hatte von einem neuen Volk gesprochen, geboren aus dem heiligen Baum von Ventari. Seine Worte hatten irgendwo zwischen Hochachtung für die Naturgeborenen und Frustration darüber, dass die Sylvari Freunde der Menschen waren, gelegen. So ganz genau schien der Weise nicht gewusst zu haben, wie er sich zu den Sylvari positionieren sollte, also taten er und seine Ältesten das, was man in einem solchen Fall immer tat: Man ging den Sylvari solange aus dem Weg, bis man wusste, was man von ihnen zu halten hatte. Für Nadrarr war das gerade keine Option. Eigentlich war er ganz glücklich über seine erste Begegnung mit einem Bewohner dieser Stadt. Ein Mensch oder ein Charr wäre deutlich unangenehmer gewesen.

„Kein Krieg mit Menschen“, versuchte Nadrarr sein Anliegen richtig zu stellen. „Der Pfahldorn jagte uns Vakathi-Zentauren wie Vieh, bevor andere Menschen den Pfahldorn verbannten. Wir haben Frieden in der neuen Heimat. Jetzt kommt der Pfahldorn zurück und scharrt neue Anhänger um sich.“ Nadrarr deutete auf das Treiben unterhalb der Klippen in der Stadt. „Schamanen der Vakathi befürchten eine neue Treibjagd. Älteste wollen wissen, ob wir fliehen oder kämpfen müssen.“

„Oh“, machte die Sylvari und ließ Nadrarr schmachvoll mit den Ohren zucken, als er seine Unhöflichkeit bemerkte. „Verzeih bitte meine … Schande? Ich bin Nadrarr Steilsprung von den Vakathi-Zentauren. Wer bist du?“

Immerhin lächelte die Sylvari. „Hallo Nadrarr. Ich bin Faloe. Einfach nur Faloe. Es ist schön zu hören, dass dein Stamm keinen Krieg will, falls das stimmt. Aber warum hockst du dann hier oben und spähst die Stadt aus wie ein Feind?“

Verstand sie es wirklich nicht? Oder war sein Neu-Krytanisch doch zu schlecht? „Menschen hassen Zentauren. Der Modniir-Stamm führt Tamini und Harathi in sinnloses Töten mit den Menschen. Wir Vakathi wollen unseren Frieden, aber Menschen erkennen nicht den Unterschied der Stämme und töten jeden Zentaur. Deswegen vermeide ich die Menschen, wenn ich kann.“

„Oh“, sagte Faloe erneut. „Ja, das leuchtet ein. Übrigens musst du dir wegen des Verrückten Königs da unten keine Sorgen machen. In ein paar Wochen ist der wieder in den Nebeln verschwunden. Niemand will den auf Dauer in Tyria haben und ich bin mir sicher, wenn er ernsthaft versuchte, wieder die Herrschaft an sich zu reißen, würde Königin Jennah sehr unangenehm werden.“

„Das klingt gut. Aber was macht der Pfahldorn hier?“

Wieder ein Lächeln. Überhaupt schien die Sylvari ständig zu lächeln. „Er hält Hof. Und die Wagemutigen nutzen seine makabren Spiele zum Zeitvertreib, solange es noch Beute zu holen gibt. Falls der alte Thorn frech wird, hat auch niemand ein Problem damit, ihm zu zeigen, dass er zwar unsterblich, aber noch lange nicht unbesiegbar ist.“

„Zeitvertreib?“ Was sagte das über die Leute in Löwenstein aus, wenn sie den Pfahldorn gewähren ließen, damit sie ihre Langeweile vertreiben konnten? Oder war der verbannte König inzwischen so machtlos, dass er zur Karikatur seiner selbst geworden war und nun tatsächlich nur noch eine Daseinsberechtigung als Schreckgespenst besaß? Wenn dem so war, wie sehr musste das den seinerzeit gefürchtetsten Herrscher Krytas ärgern? Bekam dieser grausame Schlächter vielleicht endlich das Dasein, das er verdiente? Von der Welt verlacht, ein Kinderschreck, den niemand mehr ernst nahm und der sich seiner eigenen Armseligkeit vielleicht nicht einmal bewusst war.

„Schwer vorstellbar, wenn man seine Geschichte kennt, ich weiß“, meinte Faloe. „Weißt du was? Komm doch mit in die Stadt und überzeuge dich selbst davon.“

Mit zuckenden Ohren wehrte Nadrarr ab. „Lieber nicht. Ich werde nicht zu Menschen gehen. Ich mag mein Leben.“

Faloe lachte. „Komm mit mir! Ich bürge für dich. Außerdem lernen sogar die Menschen dazu. Sie wissen, dass nicht alle Zentauren böse sind. Seit der Maguuma-Stamm aufgetaucht ist, der den Zephyriten in der Trockenkuppe hilft, haben einige Menschen erkannt, dass es sich lohnt, auch bei einem Zentauren zweimal hinzuschauen. Wenn es einen Ort gibt, wo du die Leute davon überzeugen kannst, dass dein Stamm friedlich ist, dann ist es Löwenstein.“

„Maguuma-Zentauren?“ Davon hatten die Modniir von den Dunkelhuf-Höhen nichts gesagt. Aber wenn das stimmte, was Faloe sagte, dann mieden die Maguuma vermutlich die anderen Stämme.

„Weit, weit im Westen. Vielleicht besuchst du sie mal, wenn du hier fertig bist. Aber lass uns runter nach Löwenstein gehen, damit du dir ein Bild vom Verrückten König machen kannst.“


Unfassbarerweise konnte Nadrarr nicht ohne Erleichterung einräumen, dass Faloe recht gehabt hatte. Der Pfahldorn hetzte niemanden mehr wirklich auf, war zu dem degradiert worden, als was ihn die Menschen und die anderen großen Völker bezeichneten: der Verrückte König. Und einen Verrückten nahm man nur so lange ernst, wie es der eigenen Unterhaltung dienlich war. Niemand würde für den Verrückten König erneut in den Krieg ziehen, niemand würde ihm ernsthaft dienen wollen – zumindest niemand, der nicht mit ihm zusammen in den Nebeln gefangen war.

Soweit die guten Nachrichten, denn leider waren die meisten Leute in Löwenstein auf Nadrarrs Anwesenheit trotzdem nicht gut zu sprechen. Vor allem Kinder hatten Angst, wenn sie ihn erblickten, versteckten sich hinter ihren Eltern, die ihm ebenfalls furchtsame Blicke zuwarfen. Die Wachen griffen ihre Waffen fester, wenn sie ihn sahen und besonders die Menschen spuckten ihm mehr als einmal direkt vor die Hufe, wenn sie sich in der Gruppe oder in einer anderen überlegenen Position wiederfanden.

„Woran denkst du?“, fragte Faloe leise, als ein in der Nähe des Portals nach Götterfels stationierter Seraph vor Nadrarr sein Schwert blankgezogen hatte, obwohl Nadrarr dem Mann nicht einmal nahe gekommen war. Es war eine der Situationen gewesen, in denen er froh war, dass Faloe bei ihm war, denn die Anwesenheit der Sylvari wirkte in vielen dieser Situationen deeskalierend. Ohne Faloe hätte Nadrarr sehr wahrscheinlich schlimmere Probleme als Drohgebärden und zur Schau gestellte Verachtung gehabt.

„Es ist gut, dass du hier bist. Der Pfahldorn war unser Feind vor Jahrhunderten, heute sind es meine Brüder und Schwestern bei den Modniir. Der Krieg kommt nicht zur Ruhe. Der Hass kommt nicht zur Ruhe. Wenn wir Frieden wollen, müssen wir die Menschen weiter meiden.“

„Das ist schade“, meinte Faloe und schüttelte betrübt den Kopf. „Ich glaube, dein Stamm wäre ein Gewinn für die Völker von Tyria.“

„Die Völker von Tyria sind eine Gefahr für meinen Stamm. Solange Hass da ist, können wir uns nicht zeigen.“

Zum ersten Mal seit Nadrarr die Sylvari getroffen hatte, lächelte Faloe nicht sondern zeigte eine bekümmerte Mine. „Vielleicht solltest du wirklich zu den Maguuma-Zentauren gehen und mit ihnen reden. Sie halten Frieden mit den anderen Völkern.“

„Wenn ich richtig verstehe, sind auch sie zurückgezogen auf ihrem eigenen Land. Vielleicht verstecken sie nicht, aber sie sind auch nicht hier in Löwenstein, der Stadt aller freien Völker in Tyria.“ Aller Völker, bis auf die Zentauren. Daran hatte sich nicht viel geändert.

„Aber wie willst du den Menschen beweisen, dass nicht alle Zentauren böse sind, wenn ihr nicht auf sie zugeht?“

Für einen kurzen Moment legte Nadrarr die Ohren an. „Warum müssen wir beweisen? Wir Vakathi haben nie Menschen getötet, doch Menschen töten aus Hass Zentauren.“

Mit einem tiefen Seufzen sah Faloe ihn an und zuckte schließlich mit den Schultern. „Andersherum ist es doch genauso: Die Modniir-Zentauren hassen die Menschen und es gibt viele Menschen, die nie einem Zentauren etwas getan haben. Wenn dein Problem im Hass der Menschen liegt, musst du mit ihnen reden, denn nur so kann der Hass weichen.“

Da hatte sie sicher Recht, doch dieses Mal war es Nadrarr, der lächelte, während eine Horde schreiender Kinder mit Taschen voller Zuckerzeug ihm beinahe vor die Hufe rannte. Mit einem Tänzeln wich er den Kindern aus und sah ihnen kurz nach. Sie schienen nicht einmal mitbekommen zu haben, dass er überhaupt da war. „Ich will nichts von den Menschen. Wir wollen unseren Frieden. Meine Aufgabe ist herauszufinden, ob Menschen gegen meinen Stamm ziehen.“ Er schnaubte als Zeichen der Erleichterung. „Zum Glück tun sie das nicht.“

Faloe nickte. „Und was wirst du jetzt tun?“, fragte sie und noch immer lächelte Nadrarr. „Ich gehe zum Maguuma-Stamm. Andere Zentauren, die nicht mit dem Modniir-Stamm galoppieren, werden vielleicht Freunde für Vakathi-Zentauren.“

„Das ist schön“, meinte Faloe und sehr zu Nadrarrs Freude fand sie ihr Lächeln wieder und machte einen kleinen Hüpfer, der das Farnkraut auf ihrem Kopf zum Rascheln brachte. „Die Maguuma-Zentauren werden sich bestimmt freuen, dass es noch andere wie sie gibt.“

Mit einem leichten Nicken sah Nadrarr die Sylvari an und wandte dann seinen Blick nach Westen. Für seinen Stamm wäre das die wohl beste Neuigkeit, auf die sie hatten hoffen können. Vielleicht fand er noch eine Möglichkeit, eine Nachricht zu seinem Stamm zu schicken, vielleicht sogar mit Hilfe der Weisen oder Schamanen der Maguuma-Zentauren. Und dann? Sehnsuchtsvoll sah Nadrarr einer Gruppe Norn nach und ließ seinen Blick über Löwenstein und die bunte Gefolgschaft des Verrückten Königs gleiten. Die Reise hierher war aufregend gewesen. Vielleicht sollte er diese Gelegenheit nutzen, um weiter Tyria zu bereisen. Und vielleicht … vielleicht hatte Faloe recht. Vielleicht konnte es tatsächlich helfen, mit den Menschen zu reden.