Von mir auch eine kleine
Geschichte
Der Fluch
Mit hocherhobenem Kopf
marschierte Livien über die Straßen von Löwenstein. Seine dunklen
Blätter, die schulterlang von seinem Kopf wuchsen, glänzten matt im
Schein der morgendlichen Sonne, die orangefarben vom blauen Himmel
auf Tyria schien, aber nur noch Wärme schenkte. Denn es war Herbst,
die Pflanzen und Tiere bereiteten sich auf die kalten Jahreszeit vor
und das Wetter gab mit seinen stürmischen Winden und den ständigen
Regengüssen einen Vorgeschmack auf den Winter.
Aber Livien interessierte
das alles nicht, das Wetter war ihm egal, der bevorstehende Winter
ebenso und erst recht die ganzen Menschen, Asura, Charr, Norn und
Sylvari, die ihm auf seinen Weg begegneten und sich auf Halloween
freuten, wo der verrückte König auftauchen würde und sie sich mit
Süßigkeiten die Bäuche vollstopfen konnten.
Achtlos lief er an ihnen
vorbei und drängte sich hin und wieder auch durch eine Gruppe, wenn
sie nicht schnell genug Platz machten. Das anschließende Gemurre
ließ ihn vollkommen kalt.
Livien interessierte sich
nur für sich selber und das, was er wollte. Und im Moment war sein
Ziel ein kleines Lager in der Blutstrom-Küste voller zwielichtiger
Typen. Aber dafür musste er erst einmal durch Löwenstein mit all
seinen Bewohner und Besuchern und dem ganzen unnötigen Geschnatter.
Er wollte gerade eine
Brücke überqueren, die durch Reif und den tiefen nächtlichen
Temperaturen nun eine Oberfläche aus Glatteis aufwies, als das
passierte, was er gerne vermieden hätte - eine alte menschliche
Dame. „Mein Junge“, sprach sie ihn mit einer kratzigen Stimme an,
„wärst du bitte so lieb und würdest mir über diese kleine Brücke
helfen? Ich traue mich alleine nicht hinüber, weil es so glatt ist.
Ich habe schon ein paar andere Leute dort ausrutschen sehen.“
„Keine Zeit“,
antwortete Livien barsch, „warte doch einfach bis die Sonne alles
weggeschmolzen hat. Ich kann meine Zeit nicht damit vertrödeln einer
alten Schachtel wie dir über so eine kleine Brücke zu helfen, nur
weil du zu wenig Mumm in deinen klapprigen Knochen hast.“
Er setzte sich wieder in
Bewegung, wurde aber wieder von der alten Dame gestoppt, die ihn mit
erstaunlicher Kraft an seinem Arm festhielt. Angewidert starrte er
sie an: „Tu uns beiden einen Gefallen und lass mich los.“
Die alte Dame antwortete:
„Aber es ist doch nur diese eine Brücke, es dauert doch nur wenige
Minuten. Gebt euch einen Ruck, ich wäre euch wirklich sehr dankbar.“
Livien versuchte sich
loszureißen, aber die Hand der alten Frau krallten sich unerbittlich
in seine Borkenhaut hinein und ließen ihn nicht los.
„Ich sagte, du sollst
mich loslassen! Ich hab wirklich besseres zutun, als einer alten Frau
zu helfen, die sowieso bald sterben wird!“, schnauzte er sie erbost
an.
Die alte Dame ließ ihren
Kopf hängen und schüttelte ihn traurig. Livien hatte schon die
Hoffnung, dass sie nun endlich aufgegeben hätte und machte einen
erneuten Versuch sich loszureißen, als sie plötzlich ihren Kopf
wieder hob und ihm tief in die Augen schaute.
Livien, der gerade noch
an seinem Arm zerrte, wurde von diesen Augen gebannt. Er konnte sich
plötzlich nicht mehr bewegen, geschweige denn seine Augen abwenden.
Und dann sprach die alte
Frau mit einer vollkommen anderen Stimme zu ihm, tief und machtvoll:
„Dein Herz ist kalt, Sylvari, kälter als der Wind, der uns umweht,
kälter als die Nächte, die Eis entstehen lassen. Keine Zeit für
andere nimmst du dir, keine Freundlichkeit strahlst du aus. Das
Schicksal hat dich zu mir geführt, damit du büßt. Ich verfluche
dich, Livien der Sylvari. Nie sollst du aus dieser Stadt finden, nie
dein Ziel erreichen. Niemand wird dich erkennen und du wirst jeden
zeigen, wie dein Innerstes aussieht.“
Nachdem sie diese Worte
ausgesprochen hatte, ließ sie ihn los und der bann löste sich.
Livien eilte mit klopfenden Herzen davon, fragte sich, was die Alte
da vor sich hingefaselt hatte und woher sie seinen Namen kannte.
Genannt hatte er ihn sicherlich nicht.
Nachdem er sich ein paar
Minuten nach dieser Begegnung wieder etwas beruhigt hatte, schüttelte
er den Kopf und nahm sich vor diese verrückte Frau und ihre wirren
Worte zu vergessen. Er hatte wichtigeres zutun.
So eilte er weiter durch
die Stadt in Richtung Blutstrom-Küste. Doch schnell bemerkte, dass
etwas nicht stimmte. Eigentlich hätte er schon nahe dem Ausgang sein
sollen, aber die Häuser um ihn herum wiesen auf Gebiet im Inneren
der Stadt hin. Gereizt schlug Livien einen anderen Weg ein, aber auch
dieser führte ihn nicht zur Blutstrom-Küste. Immer und immer wieder
versuchte er Löwenstein zu durchqueren, aber auch nach mehreren
Stunden hatte er noch immer nicht den südlichen Randbezirk oder
einen anderen Randbezirk erreicht. Frustriert raufte er sich durch
seine Blätterhaare und lehnte sich an eine Wand. Inzwischen war es
schon dunkel geworden und die ersten Kinder in ihren albernen
Verkleidungen liefen durch die Stadt und sangen vollkommen schief
irgendwelche komischen Lieder. Das Treffen im Lager konnte er
vergessen.
Eine Spiegelung an einem
Schaufenster ihm gegenüber erregte Liviens Aufmerksamkeit und er
betrachtete sie interessiert.
Er sah eine
Vogelscheuche. Der Körper bestand aus alten Stroh, die Beine aus
Stöcken, die sich bogen, wenn die Vogelscheuche sich bewegte,
genauso die Arme. Das Gesicht bestand aus dunklen Löchern, dort wo
die Augen sein sollten und einem verzerrten Mund, was gruselig
grinste. Abgerundet wurde es durch Kleidung, welche schon in Fetzen
herabhingen.
Irgendetwas kam ihm
komisch an dieser Gestalt vor. Er überlegte mehrere Minuten bis ihm
auffiel, dass diese Gestalt im Fenster seine Bewegungen nachahmte.
Erschrocken wich er
zurück und wedelte mit seinen Armen. Die Vogelscheuche wedelte
zurück. Eine böse Ahnung keimte in ihm auf, aber Livien wollte sie
nicht wahrhaben und vermied es daher seine Arme und Beine zu
überprüfen.
Panisch lief er davon,
aber die Vogelscheuche folgte ihm. In jedem Fenster starrte sie ihn
an.
Dann bemerkte er auch die
Reaktionen der Leute um sich herum, die auf ihn zeigten und
tuschelten. Die meisten nickten ihm anerkennend zu, andere klatschten
sogar in die Hände und hier und da reichte man ihm eine handvoll
Süßigkeiten.
Livien rannte immer
schneller durch die Stadt und schlug Hände beiseite. Irgendwann kam
er an einem Springbrunnen an, hielt sich, schwer atemholend, am Rand
fest und schaute ins Wasser. Auch hier grinste ihn wieder die
Vogelscheuche an und der Blick Liviens fiel auf seine Hände.
Die Hände waren nicht
mehr wohlgeformt und besaßen die Farbe dunklen Grüns von
Mitternachtsmoos, sie waren knorrig und braun, hatten sich in Äste
verwandelt, Äste, die aus einem Arm aus Stroh herausragten.
Ängstlich wanderten
seine Augen weiter, über den Arme, die Brust, hinunter zu seinen
Beinen. Und das, war er schon geahnt hatte, seit er die Vogelscheuche
zum ersten Mal im Schaufenster gesehen hatte, hämmerte sich mit
gnadenloser Gewissheit in sein Bewusstsein. Er war die Vogelscheuche!
Irgendwie hatte er sich
in dieses hässliche Ding verwandelt und irrte durch Löwenstein.
Dann fiel ihm die Alte wieder ein und ihre Worte. Sie hatte ihn
verflucht, aber er hatte es nicht ernst genommen, doch der Fluch war
real, seine Gestalt keine Einbildung.
'Die Alte, ich muss
die Alte finden und sie dazu bringen diesen Fluch wieder von mir zu
nehmen' dachte Livien voller Panik und lief wieder los.
Die ganze Nacht suchte er
nach der alten Frau, konnte sie aber nirgends finden, dafür aber den
verrückten König und sein ebenso verrücktes Gefolge. Unter ihnen
und den ganzen Verkleidungen der Leute, fiel Livien nicht weiter auf.
Aber auch in den
folgenden Tagen fand er keine Spur von der alten Frau. Und dann war
Halloween vorbei und der verrückte König verschwand wieder in den
Nebeln. Die skurrilen Diener verschwanden, genauso wie die
verkleideten Leute, doch Livien war noch immer einer Vogelscheuche.
Noch immer lief er durch die Stadt und suchte verzweifelt nach der
alten Dame. Die Einwohner zeigten wieder auf ihn, doch jetzt
schüttelten sie die Köpfe und die Kinder lachten ihn aus und
riefen, dass er wohl vergessen habe, dass Halloween vorbei sei und
der verrückte König erst nächstes Jahr wiederkäme.
Immer schlimmer wurden
die Reaktionen bis Livien sich versteckte.
Und so begann sein neues
Leben. Jedes Jahr zur Halloweenzeit kam er aus seinem Versteck,
mischte sich unter die Schar der Verkleideten und suchte nach der
alten Frau, damit sie den Fluch von ihm nahm. Und jedes Jahr, wenn
der verrückte König wieder in die Nebel zurückkehrte, kehrte auch
Livien wieder in sein Versteck zurück, um dort das Jahr ungesehen zu
verbringen und wartete auf seine nächste Chance im nächsten Jahr.
Und nie schaffte er es aus Löwenstein heraus, seine Schritte führten
ihn immer wieder in das Herz der Stadt und so war er verdammt Jahr
für Jahr hier zu leben, in Löwenstein, in der Gestalt einer
häßlichen Vogelscheuche, mit der schwachen Hoffnung, die Alte Frau
finden, wenn der verrückte König die Stadt besuchte, auf dass sie
ihm den Fluch wieder nahm.