Dafür, dass dies ein Schloss zwischen den Welten war, wirkte
all das erstaunlich gewöhnlich und normal. Vor allem aber war alles in diesem
Gemäuer uralt. Besonders die zahlreichen Bilder an den Wänden erzählten in
verblichenen Farben die Geschichten stolzer und längst vergessener Adliger
der Menschen.
Immer wieder hatte Syrin den Eindruck davonhuschender
Schatten, sobald sie und Elna ein neues Gemach oder einen weiteren Saal
betraten. Was hauste hier? War hier überhaupt irgendetwas oder narrten einzig
Hirngespinste Syrins Sinne? In diesem Schloss konnte durchaus der Eindruck
entstehen, dass das alte Gemäuer selbst eine kuriose Art von Lebewesen war. Da
war dieser seltsame, stille Wind, der die Nebelschwaden an den Fenstern
vorbeitrug, ohne dass sich in den Gärten hinter dem Glas auch nur ein Blatt
bog. Oder das Raunen und Seufzen in den Gängen, von dem unmöglich zu sagen
war, ob es vom Schloss selbst kam oder von irgendeinem mysteriösen Bewohner.
„Ein König sitzt in seinem Schloss,
Hält Hof von seinem hohen Ross.
Tick, tack, die Uhr im Turm,
Spring schnell, Du kleiner Wurm!
Der König sitzt auf seinem Thron
Und stänkert ständig mit dem Sohn.
Eins, zwei, drei, ein Schreck!
Pass auf, sonst bist Du weg!“
„Ich höre was“, knurrte Syrin möglichst leise und legte Elna
ihre Pranke auf die Schulter. Angestrengt lauschte die kleine Menschenfrau nun
ebenfalls in die Gänge hinein und schließlich stand erkennbare Verwirrung in
ihrem Gesicht. „Das klingt wie ein Kinderreim.“
„Ein Gedicht für Menschenkinder?“
Elna nickte. „So in der Art. Aber das heißt, hier gibt es ein
Kind.“
Oder etwas, das so tat als ob. „Gehen wir hin“, knurrte
Syrin und ging der Stimme entgegen. Falls Elna Einwände hatte, behielt sie diese
für sich. Schließlich betraten sie ein weiteres Zimmer und tatsächlich hockte
in der hintersten Ecke ein Menschenjunge auf dem Boden und schien vertieft in
sein Spiel mit kleinen Zinnfiguren.
„Hallo. Kannst Du uns sagen, wo wir hier sind?“
Der Junge sah auf und Verwirrung stand in seinem Gesicht.
„Im Schloss des Verrückten Königs, wo sonst? Und wo seid Ihr her?“
Bevor Syrin Elna zurückhalten konnte, plapperte diese munter drauf los. „Mein Dorf liegt bei Ebonfalke, in den Feldern
der Verwüstung und Syrin hier kommt direkt aus der Schwarzen Zitadelle.“
Ein unwilliges Knurren war alles, was Syrin dazu sagte, doch
der Junge beachtete sie nicht.
„Ihr kommt aus Tyria?“
„Nein!“
„Woher sollen wir sonst kommen?“, fragte Elna und am
liebsten hätte Syrin ihr für ihr loses Mundwerk und unbedachtes Geplapper den Kopf abgerissen. Wäre da
nicht die schwere Schuld gewesen, die Syrin gegenüber ihrer Gefährtin empfand.
Elna hatte Syrin bei sich aufgenommen und gepflegt, als ihr Tribun sie
verstoßen und zum Gladium erklärt hatte. Vermutlich hätte sie ohne Elna nicht
einmal überlebt und es war ihre Idee gewesen, Syrin ihre Ehre zurückzugeben,
indem sie sich bei einer Heldentat in den Nebel bewies. Leider sah diese
Mission bisher eher wie eine einzige Enttäuschung aus.
„Ihr könnt uns helfen, der Verbannung zu entkommen!“, plapperte
der kleine Junge plötzlich drauf los und im Gesicht des kleinen Menschen stand
auf einmal pure Freude.
„Verbannung?“, frage Elna.
„Warum wurdest Du verbannt?“ Sofort spürte Syrin das
Misstrauen einer guten Soldatin in sich aufsteigen. Was wussten sie denn über
diesen Menschenjungen? Mochter er auch noch so harmlos aussehen, die Sache roch
nach Ärger – wie dieses ganze verfluchte Schloss!
Der Junge starrte betreten auf den Boden. „Der Verrückte
König wurde aus Tyria verbannt, weil er böse war. Sein gesamter Hof ist mit ihm
verbannt worden und damit auch meine Mutter und ich. Und nun sitze ich hier
fest.“
Wunderbar. Verrückter König klang ganz nach etwas, das
besser da blieb, wo es war. „Wir können Dir nicht helfen!“, meinte Syrin
bestimmt und zog zugleich Elna zurück, die ein Gesicht zog, als würde sie die
Sache anders sehen.
„Syrin …“
„Nein! Verrückter König klingt nach etwas, was wir nicht in
Tyria haben wollen! Wir haben genug Wahnsinnige bei uns!“ Das Machtwort war
gesprochen und glücklicherweise schien Elna das einzusehen. „Tut mir leid. Dir
würde ich gerne helfen, aber was Deinen König betrifft, hat Syrin wohl recht.“
Betreten sah der Junge zu Boden, als Syrin Elna an der
Schulter packte und sie von dem Jungen fortschob. „Wir sollten gehen, Elna. Die
Geisterstunde ist bald um und wir haben bis nach draußen noch ein Stück zu
laufen.“
Zügig und ohne noch einmal auf ein Lebenszeichen von
irgendwem zu stoßen, zerrte Syrin Elna hinter sich her. Sie wollte bloß raus
hier aus diesem Geisterschloss! Verrückte Könige, die irgendwann einmal
verbannt wurden – das klang unheilvoll! Als sie endlich wieder draußen in der
Mondnacht Tyrias standen, schnaufte Syrin tief durch. Also lebte in diesem
Geisterschloss tatsächlich etwas, das offenbar gefährlich genug war, dass
irgendwer eine nicht unerhebliche Mühe aufgewendet hatte, um es zu verbannen.
Mochte es nun ein Verrückter König sein oder sonst etwas. Ascalon hatte schon
einmal gezeigt, welchen Schaden …
„Meine Mütze ist weg!“
Völlig aus den Gedanken gerissen, starrte Syrin zu Elna
herunter. „Was?“
„Ich muss meine Mütze im Schloss verloren haben.“ Betreten
klopfte Elna ihre Taschen ab und verzog das Gesicht, als sie damit begann, sich
ihren Schal bis über die Ohren um den Kopf zu wickeln. „Mist! Oma hat sie mir
aus Löwenstein mitgebracht.“
Syrin schnaubte, dass weiße Dampfwölkchen aus ihrem Maul
stoben. „Egal. Die Geisterstunde ist gleich vorbei und dieses Schloss
verschwindet wieder in den Nebeln. Sei immerhin froh, dass Du unbeschadet hier draußen
bist, anstatt da drin.“